Schleiermacher gilt im Kontext der Diskussion um die Geisteswissenschaften als »Klassiker der Hermeneutik« und als Mitbegründer des »Historismus«. Dieses Buch zeigt, daß dies eine schiefe, zumindest sehr enge Blickweise ist. Denn für Schleiermacher war nicht die Hermeneutik, sondern die philosophische Ethik die Basis aller Geisteswissenschaften, und diese waren ihm deshalb nicht interpretierende, sondern ethischgeschichtliche Wissenschaften. Die Hermeneutik aber ist in seinem System ebenso...
Schleiermacher gilt im Kontext der Diskussion um die Geisteswissenschaften als »Klassiker der Hermeneutik« und als Mitbegründer des »Historismus«. Dieses Buch zeigt, daß dies eine schiefe, zumindest sehr enge Blickweise ist. Denn für Schleiermacher war nicht die Hermeneutik, sondern die philosophische Ethik die Basis aller Geisteswissenschaften, und diese waren ihm deshalb nicht interpretierende, sondern ethischgeschichtliche Wissenschaften. Die Hermeneutik aber ist in seinem System ebenso wie Staatslehre, Ästhetik und Religionsphilosophie von jener Ethik abhängig; von einer Ethik, die eine praktische Philosophie im umfassendsten Sinne und eine Theorie der modernen Kultur ist. Hat Schleiermacher die Differenzierung von Kultur und Gesellschaft als Freiheitsgewinn begrüßt, so hat er einen strengen Dualismus von Geistes- und Naturwissenschaften verhindern wollen und einen Gegensatz von Soziologie und Ethik noch nicht gekannt. Dem gesamten System, das für die Theorie der Geisteswissenschaften ins Auge gefaßt werden muß, liegt ein reformerischer Impuls zugrunde: es steht im Dienst einer differenzierten Kultur und einer humanen Gesellschaft. Man kann dies heute aus einem Interesse an Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zur Kenntnis nehmen; aber es dürfte darüber hinaus als Vorbild Aktualität haben: Denn den Geisteswissenschaften, die sich gegenüber den Problemen der Gesellschaft und Kultur isolieren, droht die Bedeutungslosigkeit.