Emma Braslavsky liest zehn Seiten
Emma Braslavsky liest aus ihrem Roman
5 handfeste Tipps »»»
Acht Jahre lang beschäftigte sich Emma Braslavsky mit nichts Geringerem als dem unerschöpflichen Thema von Fluch und Segen des Menschseins, also mit den Fragen: Warum schaffen wir es nicht, uns wie Menschen zu benehmen? Warum gelingt es uns nicht, nach jenen Prinzipien zu handeln, die wir selbst in zahllosen Manifesten für ein besseres, gedeihlicheres, gerechteres Zusammenleben niedergeschrieben haben? Warum fällt es uns so schwer, uns selbst zu verändern – trotz des technischen Fortschritts, zu dem wir in der Lage sind?
Um Ihnen die Zeit bis zur vollständigen Klärung dieser Fragen angenehmer zu gestalten, hat die Autorin für Sie fünf handfeste Tipps für richtiges Verhalten in prekären Lebenssituationen zusammengestellt, mit denen Sie die nächsten turbulenten Jahrzehnte im Handumdrehen meistern werden:
Jetzt wünsche ich Ihnen viel Spaß im Paradies!
Jetzt gilt es, weiterhin Ruhe zu bewahren und abzuwarten. Handeln Sie nicht überstürzt, und ziehen Sie auch nicht sofort in Erwägung, sich von der Seenotrettung bergen zu lassen, nur weil Sie Angst haben, zu verdursten, zu verhungern oder allein zurückzubleiben. Bedenken Sie: Diese Retter lassen sich gerne in den Medien als Samariter feiern und haben deshalb ein Interesse daran, die Schiffbrüchigen auf den Fotos in einem elenden und halbtoten Zustand zu präsentieren. Deshalb: Bleiben Sie cool, halten Sie sich mit regelmäßigen, aber nicht allzu heftigen Armbewegungen über Wasser, und suchen Sie nach Gegenständen, die Ihnen zwischenzeitlich als Schwimmhilfe dienen können. Aber Obacht: Klammern Sie sich nicht gleich an das Erstbeste. Ihre Schwimmhilfe muss zu Ihnen passen! Sie brauchen Geduld. Und keine Panik. Mit Sicherheit werden Sie bald einen tischähnlichen Gegenstand im Wasser treiben sehen. Schließlich waren Sie ja mit einem dieser luxuriösen Ozeanliner unterwegs. Also: Können Sie schon erkennen, was da auf Sie zutreibt? ... Ja, ja, nur zu, Sie dürfen jetzt ruhig mal vor Freude in Tränen ausbrechen. Denn Sie sehen richtig: Es ist eine dieser weißlackierten Poolbars, die bei neureichen Freunden und auf den Decks der Luxusyachten immer so prollig aussehen. Aber auf dem offenen Meer sind sie die stilvollsten Rettungsvehikel aller Zeiten. Bringen sie die Bar in die Waagerechte, dann ziehen Sie sich hoch und legen Sie sich lässig auf den Bauch. Halten Sie nun Ausschau nach im Wasser treibenden Sonnenschirmen. Ein solcher Schirm bietet Ihnen nicht nur Sonnen- und Regenschutz, sondern eignet sich, entsprechend verkantet und mit Schnüren seitlich an der Bar befestigt, auch als Segel. Na…? Wie ist es? Habe ich zu viel versprochen? Sie merken selbst: Mit einem Ozeanliner zu verunglücken, muss kein Drama sein!
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer geschmeidigen Haltung! Und bevor Sie sich nun erleichtert auf den Rücken legen und den Wind seine Arbeit tun lassen: Sehen Sie den Drehverschluss dort an der Seite? Öffnen Sie ihn ruhig, nur zu! Ja, Sie dürfen ruhig noch mal vor Freude in Tränen ausbrechen, denn Sie werden dort einen beachtlichen Vorrat an Piccolo Champagner und gesalzenen Erdnüssen vorfinden. Kleiner Tipp: Nicht alles auf einmal trinken. Sie wollen doch beim Stranden nicht mit verquollenen Augen und roter Nase abgelichtet werden. Immer schön Schlückchen für Schlückchen, damit im entscheidenden Moment auch noch eine kleine Reserve für die Leute am Strand übrig ist und auf den Fotos alles wie eine gefakte Schiffbruch-Erlebnistour wirkt.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit Ihrem ersten Schiffbruch!
Herzlichen Glückwunsch! Den schwierigsten Schritt zur Selbsterneuerung haben Sie schon gemacht.
Jetzt geht es an die Umprogrammierung Ihrer Zellen. Dazu nehmen Sie ein weiteres Ihrer Haare und kultivieren das Zellmaterial in einer Nährstofflösung. Die somatische (Haut-)Zelle müssen Sie nun in eine Stammzelle umwandeln, das gelingt Ihnen zum Beispiel unter Zuhilfenahme von Retroviren und anschließender erneuter Kultivierung in der Nährstofflösung. Führen Sie nun exakt dieselben Veränderungen an der Zelle aus, die Sie vorab in der Datei auf dem Bildschirm getestet und vorgenommen haben, also Schalter, Codone, das ganze Pipapo. Und jetzt brauchen Sie bloß noch ein weiteres Virus, das die rundum erneuerte Zelle mit Ihren frischgemachten Programmen in Ihre DNA einschleust.
Fertig? – Bravo! Die ultimative Detox-Strategie! Sie werden sich wie neu geboren fühlen. Und jetzt wünsche ich Ihnen viel Spaß mit Ihrem neuen Leben.
Gratulation! Der erste und schwierigste Schritt zu Ihrer Erleichterung ist getan.
Sollte der unliebsame Text ausschließlich in digitaler Form vorliegen, sind Sie schon fast am Ziel. Geben Sie Ihrer eigenen Datei denselben Namen wie der Original-Datei und passen Sie unter Zuhilfenahme einer entsprechenden Datei-Datum-Änderungsapp (weitere Informationen dazu finden Sie über die Suchmaschine Ihres Vertrauens) das Erstelldatum Ihrer Datei jenem der Original-Datei an. Anschließend brauchen Sie die ungeliebte Originaldatei bloß durch ihre bearbeitete zu ersetzen. Fertig!
Bei physischen Medien gehen Sie bitte wie folgt vor: Original und Neufassung müssen sich zum Verwechseln ähneln. Deshalb fertigen Sie ein fehlerloses Duplikat des physischen Mediums an. Damit schleichen Sie sich in die Bibliothek Ihrer Tante und tauschen unbemerkt das alte Exemplar durch das neue aus. Das Original bitte anschließend unbedingt vernichten.
Geschafft? – Herzlichen Glückwunsch!
Obacht: Es bringt nichts, wenn Sie die Aufzeichnungen nur »verschwinden lassen« oder sogar verbrennen. Tante Hedwig hat entweder eine Kopie, oder sie schreibt ihre Lebenserinnerungen von neuem auf. Nur was Schwarz auf Weiß steht, hat Gültigkeit, also die von Ihnen hergestellte Version der Geschichte. Und sollte Ihre Tante behaupten, dass das alles niemals von ihr aufgeschrieben worden sei, können Sie immer noch ein besorgtes Gesicht machen und sie einem Neurologen vorstellen.
ABER: Sollte es sich gar um ein veröffentlichtes und verbreitetes Original handeln, um eine wichtige Quelle, vielleicht sogar um ein Fachbuch über eine besonders deprimierende historische Epoche, müssen Sie unbedingt Geduld mitbringen. Fangen Sie mit dem Tausch der Exemplare in den Bibliotheken an. Gehen Sie dabei wie oben beschrieben vor. Unter keinen Umständen dürfen Sie sich beim Austausch des Originals durch Ihre Neufassung blöd anstellen und erwischen lassen! Meist dauert es nicht lange, bis die ersten Exemplare der Originalfassungen in den Ramsch-Kisten und auf Flohmärkten auftauchen. Kaufen Sie sie alle auf! Es ist die richtige Investition.
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit der Zukunft!
Das Nahrungsangebot während handfester Krisen ist meist erheblich eingeschränkt, doch kommt das Ihrem Wunsch nach Transformation nur zugute. In den ersten tausend Tagen dürfen Sie sowieso bestenfalls die Kerne von Früchten, schlimmstenfalls die Rinde von heimischen Laubbäumen verzehren. Aber wichtiger als der Erhalt Ihrer materiellen Existenz auf minimalem Level ist die Vorbereitung Ihres Geistes. Setzen Sie sich deshalb während dieser eintausend Tage täglich im Schneidersitz in eine Wanne und lassen Sie kaltes Wasser über Ihren Körper laufen, während Sie dazu ein selbstgewähltes Mantra sprechen und in regelmäßigen, aber großen Abständen in die Schale mit den Kernen greifen. Wichtig: Lassen Sie sich nicht von Ihren Kaugeräuschen ablenken! Das Ziel dieser Phase ist es, Fett zu verlieren, ohne dabei zu verhungern und zu verdursten.
Bravo! Den ersten Schritt der Transzendierung haben Sie geschafft. Während andere um sie herum leiden und über die Entbehrungen klagen, freuen Sie sich über abgeworfenen Ballast.
Auch die zweite Phase dauert tausend Tage. Dafür benötigen Sie eine Dose Klarlack, die Sie wahrscheinlich noch aus guten Zeiten im Keller haben, sowie gesunde Rinde von heimischen Nadelbäumen. Sollten durch Bombenangriffe o.ä. die Wälder ringsherum zu Schaden gekommen oder gar abgebrannt sein, ist Vorsicht geboten. Alternativ können Sie auch auf die Wurzeln der Nadelbäume ausweichen. Spülen Sie die Rinde oder die Wurzeln vor dem Verzehr mit Wasser, denn das ist die einzige Flüssigkeit, die Sie zu sich nehmen dürfen. Essen Sie davon höchstens eine Handvoll pro Tag, verteilt auf sehr kleine Portionen. Besonders wichtig ist während dieser Phase das Schweigen. Denken Sie nur an Ihr Mantra! Egal, was um Sie herum passiert. Brühen Sie sich in den letzten hundert Tagen der zweiten Phase Tee unter Zugabe einiger Tropfen des Klarlacks, und trinken Sie zwei Tassen in kleinen Schlucken über den Tag verteilt. Damit verändern Sie die Konsistenz Ihres Blutes und verhindern überdies, dass Sie in diesen schwierigen Zeiten von hungrigen Mitbürgern oder kleinem Getier, wie zum Beispiel Maden, verspeist werden.
Gratulation! Mit Abschluss der zweiten Phase stehen Sie schon an der Schwelle zur Transzendenz und sind bereit für den letzten Schritt. Sollten Sie keinen körperlich intakten Mitmenschen mehr um sich herum haben, der Ihnen dabei zur Seite stehen und vielleicht noch das entscheidende Foto für die sozialen Netzwerke machen kann, lassen sich diese Handgriffe im Notfall auch allein bewerkstelligen. Dieser ultimative Abschnitt, der Sie in den Zustand der Unsterblichkeit versetzen soll, umfasst ebenfalls tausend Tage. Dazu begeben Sie sich (falls nicht aufgrund von Notstand oder Kriegszustand bereits geschehen) in Ihren Keller und mauern sich zunächst nur soweit ein, dass Sie noch ein Foto von sich machen können, auf dem das Datum deutlich zu erkennen ist. Dieses Foto posten Sie mit genauen Standortangaben auf allen Ihnen noch zur Verfügung stehenden Netzwerkseiten. Obacht: Sollte dies nicht mehr möglich sein, müssen Sie anders vorgehen. Drucken Sie das Foto noch vor Ihrer Einmauerung mitsamt Googlemaps-Position mehrfach aus, verstauen Sie die Exemplare einzeln in einer Klarsichthülle und verteilen Sie sie in der Umgebung. Das ist wichtig, denn Ihr Übertritt ins Nirwana ist nur dann wirklich erfolgreich, wenn die irdische Nachwelt davon erfährt. Sollten Sie sich also ohne Zeugen in Ihrer menschgroßen Gruft einmauern müssen, dann drücken Sie sich selbst die Daumen, dass jemand nach Ablauf der tausend Tage nachsehen kommt, ob Sie mit Ihrer Transzendierung erfolgreich waren. Denn dann werden Sie mit Sicherheit auf dieser Welt unsterblich sein.
Nun wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Selbstmumifizierung!
#LEBENISTKEINEART
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Emma Braslavsky
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Emma Braslavsky, 1971 in Erfurt geboren, ist seit 1999 als freie Autorin und Kuratorin tätig. Ihr Debütroman Aus dem Sinn wurde 2007 mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis sowie dem Franz-Tumler-Debütpreis ausgezeichnet und war für den Debütpreis des Buddenbrookhauses nominiert. Ihr zweiter Roman Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik erschien 2008. Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen ist ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag. Emma Braslavsky lebt in Berlin.
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Pressestimmen zu LEBEN IST KEINE ART, MIT EINEM TIER UMZUGEHEN
Veranstaltungen mit Emma Braslavsky

Emma Braslavsky liest aus Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten
Moderation: Andrea Stephani
Marstall im Kurmainzer Amtshof
64646 Heppenheim