7 Fragen an Anna Katharina Hahn zu Der Chor

Beitrag zu 7 Fragen an Anna Katharina Hahn zu <i>Der Chor</i>

Ihr Roman dreht sich – der Titel verrät es – um einen Chor, genaugenommen ein Frauenchor. Warum haben Sie diesen Chor ins Zentrum Ihrer Erzählung gestellt?

Im Grunde ist jeder Chor, egal von welcher Qualität, ein Wagnis. Nicht nur für seine Leiterinnen und Leiter, sondern für alle, die sich entscheiden, mitzusingen: Man muss vor die Tür gehen, fremde Leute treffen, aus anderen Stadtteilen, Ländern, sozialen Schichten, sich vor sie hinstellen, den Mund aufmachen, die eigene Stimme einsetzen, in den Pausen aufeinander zugehen, gemeinsam viele Stunden verbringen. Und nach all diesen Zumutungen versuchen diese Menschen, miteinander zu einem Klang zu verschmelzen. Selbstverständlich spiegelt die Welt der Chöre auf den ersten Blick eher die starke Aufsplitterung unserer Gesellschaft wider: in Profis und Laien, highbrow und lowbrow, in Geschlechter, Berufsgruppen, Konfessionen, sexuelle Orientierungen – für jede Bubble findet sich der passende Chor. Aber ein unambitionierter Freizeitchor wie meine ›Cantarinen‹ bringt Leute zusammen, die einander unter anderen Umständen nie getroffen hätten. Genau hier beginnt das erzählerische Abenteuer. Mir ist es wichtig, auch Figuren zu erschaffen, die nicht in meinem Alter sind oder meinem Milieu angehören, so wie Cora und ihr Sohn, Lena oder Sylvia. Wir glauben ja in Deutschland noch immer fest an eine nahezu klassenlose Gesellschaft mit Aufstiegsversprechen durch Bildung. Aber unsere Wirklichkeit sieht leider ganz anders aus und entfernt sich immer weiter von diesem Ideal. Natürlich bin ich keine realistische Schriftstellerin, aber ich fühle mich durch und durch der Gegenwart verpflichtet, der Darstellung von Ausschnitten aus unserem Leben. Dafür habe ich in diesem Roman einen Frauenchor gewählt.
 

Im Chor treffen sehr verschiedene Persönlichkeiten aus mehreren Generationen aufeinander – ist Der Chor auch ein Roman über die Verständigung zwischen Generationen?

Der Chor führt, wie alle meine Romane, eine Vielzahl von Themen zusammen. Ohne ihren Chor würden Frauen wie Alice, Marie und die junge Studentin Sophie sich wahrscheinlich nicht näher mit Lena befassen, die bereits auf die 80 zugeht. Freundschaften und Abneigungen entstehen in diesem Gefüge, alle Figuren suchen nach Erlösung durch andere. Einsamkeit ist ein großes Thema, die Verlassenheit der Alten wie der Jungen, auch das Alleinsein zu zweit in der Ehe. Während der Coronazeit hat sich dieses Problem mitunter bis zur Lebensgefahr verschärft – durch das Verschwinden gemeinsamer Treffpunkte und Tätigkeiten, besonders für die Jüngsten und die Ältesten. Und selbstverständlich ist Der Chor auch ein Roman über das Erzählen selbst: Manche der eingestreuten Geschichten entstanden aus reiner Freude am Verlassen der Figurenperspektive. Sie klingen fast wie Märchen, schmücken sich auch mit fremden Federn, sind aber im Grunde etwas ganz anderes. Man könnte sie als Inseln im Bewusstseinsstrom beschreiben. Wer Spaß daran hat, einzelne Fäden aus dem Gewebe zu zupfen, wird auf jede Menge Spuren meiner Papierfamilie stoßen, ohne die ich nicht schreiben könnte.
 

Freundschaft ist ein wichtiges Thema Ihres Romans. Worauf kommt es Ihnen in einer guten Freundschaft an?

Die Freundschaften zwischen diesen singenden Frauen, die einander zärtlich »Chorschwestern« nennen, sind zentral für den Roman. Aber Freundschaften können komplexe und gefährliche Angelegenheiten sein, ähnlich schwierig wie Liebesbeziehungen. Und ohne Liebe im besten Sinne funktioniert keine Freundschaft, oder? In meinem Roman üben die Freundinnen untereinander auch Macht aus, genau wie die Partner in Zweierbeziehungen, und sie stellen Forderungen: nach Loyalität, Treue, ungeteilter Aufmerksamkeit und zärtlicher Beachtung. Natürlich findet auch Verrat statt, genau wie in Paarbeziehungen. Und dann wird es bitter und bösartig. Freundschaften sind wichtig für mich, zu Frauen wie zu Männern. Trotzdem sehe ich die ungeheuren Ansprüche, die gerade Frauen an ihre besten Freundinnen stellen, mit gemischten Gefühlen. Was da alles verlangt wird, grenzt ans Übermenschliche und erinnert mich oft an Schillers Bürgschaft, in der sich ein Freund für den anderen mit Leib und Leben opfert. Ich bewundere dieses Ideal, allerdings genügt mir schon, wenn meine Freunde mich aushalten in meinem Anderssein und mir nicht nur ein Abziehbild des eigenen Selbst bieten, sondern Widerspruch. Dafür bin ich dankbar.
 

Welche Bedeutung hat für Sie Stuttgart als Handlungsort des Romans? Könnte das Buch auch in jeder anderen Großstadt spielen?

Meine Figuren könnten sicher in jeder westlichen Großstadt leben. Aber bei einigen empfinde ich den Wesenskern, ihre Hintergründe und ihre Sprache als unverkennbar für Stuttgart. Die Lebensläufe sind deutlich durch unterschiedliche Formen von Arbeitsmigration in der Nachkriegszeit geprägt, die in dieser Stadt bis heute spürbar sind. Alice und Lena sind Nei’gschmeckte, also Zugezogene. Sie reiben sich an den Grenzen, die Stuttgart ihnen vorsetzt. Wie überall auf der Welt gehört man nie ganz dazu, wenn man den örtlichen Dialekt nicht beherrscht und weder Gräber noch Wohnhäuser seiner Vorfahren vorzeigen kann. Trotzdem verlassen seit jeher Menschen ihre Heimat, auf der Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten. Meine Familie kennt beide Seiten der Medaille – Verwurzelung und Migration. Für mich ist es am interessantesten, beides zu beschreiben.
 

Die Einschränkungen der Corona-Lockdowns spielen in Rückblenden immer wieder eine Rolle – wann haben Sie begonnen, an Ihrem Roman zu schreiben, noch während der Pandemie?

Die Idee, einen Frauenchor in den Mittelpunkt zu stellen, hatte ich bereits, als ich noch an meinem letzten Roman Aus und davon arbeitete – also lange bevor die Pandemie überhaupt denkbar wurde. Ihre Auswirkungen haben sich in das Buch eingeschlichen. Sie gehören zur jüngsten Vergangenheit aller Figuren, ebenso wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der Klimawandel und der pessimistische, sehr deutsche Blick auf die Zukunft – dunkle Unterströmungen, die nicht lautstark thematisiert werden, aber immer leise vor sich hin brodeln.

 

Es geht durch den Chor viel um Musik in Ihrem Roman – haben Sie beim Schreiben viele der Chorstücke gehört oder schreiben Sie lieber im Stillen?

Viele dieser Lieder habe ich immer wieder gehört, sie auswendig gelernt und gesungen, um ein Gefühl für sie zu bekommen, für ihre körperliche Wirkung, die ja enorm stark sein kann, wenn man Töne und Worte aus sich herausfeuert. Zum Arbeiten brauche ich allerdings eine musikfreie Umgebung, nicht totenstill, aber einigermaßen ruhig. Außerdem gibt es im Roman Stücke, die nicht als Lieder existieren, so wie Über gelb’ und rote Streifen, das aus Eichendorffs Zauberei im Herbste stammt.
 

Singen Sie selbst gerne?

Ich singe mit Begeisterung, allerdings unbelehrbar falsch und daher nicht im Chor. Meiner Leidenschaft fröne ich nur, wenn ich weiß, dass mir niemand zuhört.

Der neue Roman der preisgekrönten Bestsellerautorin

Angesichts unserer Gegenwart, in der nichts mehr sicher scheint, schildert Anna Katharina Hahn einen Stuttgarter Chor als Spiegel einer ganzen Stadtgesellschaft. Einfühlsam und unerbittlich porträtiert sie in ihrem neuen Roman Frauen aus drei Generationen – in ihren Stärken und Schwächen, ihren Gefühlen, ihrer Sensibilität und ihrer Gnadenlosigkeit.

Endlich wieder offline! Schon vor den Lockdowns war die Probe ihres Frauenchors für Alice, Marie und ihre ältere Freundin Lena der Höhepunkt der Woche. Nachdem sie viel zu lange nur hinter Masken oder gar nicht zusammen singen konnten, erkennen sie deutlich, was sie entbehrt haben. Ihre Freundschaften haben die Pandemie überlebt, allerdings auch ihre Probleme miteinander. Alice, der beruflich fast alles gelingt, leidet darunter, dass Marie nicht mehr mit ihr spricht. Während Lena, eine pensionierte Lektorin, sich über das Altern keine Illusionen macht. Ein offenes Geheimnis ist die Abneigung der meisten Sängerinnen gegen Cora, die in prekären Verhältnissen lebt und den Chor zur Jobsuche nutzt. Als Sophie, eine vereinsamte Studentin, bei den Proben auftaucht, beginnt ein emotionaler Aufruhr. Besonders für Alice: Plötzlich entdeckt sie Gefühle, die sie selbst überraschen.

Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller Kürzere Tage. Ihr zweiter Roman, Am schwarzen Berg, stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Mit Das Kleid meiner Mutter hat sie 2016, so Denis Scheck, »ein großes europäisches Tableau« entworfen. Ihr Roman Aus und davon erschien 2020 und stand mehrfach auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller Kürzere Tage. Ihr zweiter Roman, Am schwarzen...

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