5 Fragen an Nikoletta Kiss zu Rückkehr nach Budapest

Beitrag zu 5 Fragen an Nikoletta Kiss zu <em>Rückkehr nach Budapest</em>

Rückkehr nach Budapest erzählt von Freundschaft und Liebe in schwierigen Zeiten. Gab es einen Auslöser oder eine bestimmte Sache, die Sie zum Schreiben dieser Geschichte motiviert hat?

Tatsächlich gibt es eine Geschichte, die mir ein Bekannter erzählte, und die dann den entscheidenden Anstoß für den Roman gab. Ende der 1970er-Jahre reiste dieser Bekannte, ein Ungar, mit seiner damaligen Frau aus Budapest nach Wien, um dort das Wochenende zu verbringen. Solche Pauschalreisen aus dem sozialistischen Ungarn waren damals schon möglich – anders als in der DDR, von wo man nicht ohne Weiteres ins westliche Ausland reisen durfte. Erst nach ihrer Ankunft in Wien eröffnete er ihr seine Idee: Sie könnten doch bleiben. Gemeinsam in Wien ein neues Leben beginnen – mit dem Wissen, dass dies eine endgültige Entscheidung sei. Es folgte eine tränenreiche Nacht. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihre Familie in Ungarn zurückzulassen. Und auch er wusste, was auf dem Spiel stand: zwei Kinder aus erster Ehe, noch im Schulalter. Die Behörden würden die Pässe der in Ungarn verbliebenen Verwandten einziehen, und er hatte keine Gewissheit, ob oder wann er seine Kinder je wiedersehen würde. Im Morgengrauen stand er am Busbahnhof und beobachtete aus der Deckung einer Säule, wie seine Frau die Stufen des Reisebusses hinaufstieg – in der Hoffnung dass sie vielleicht doch noch ihre Meinung änderte. Einen Moment lang zögerte sie, drehte sich noch einmal um – dann verschwand sie im Inneren des Busses. Diese Szene hat mich nicht mehr losgelassen. Die Vorstellung, durch äußere Zwänge zwischen Familie, Freiheit und Liebe wählen zu müssen, wurde zum Ausgangspunkt meines Romans.


Sie selbst sind in Budapest und Berlin aufgewachsen und leben heute in Wien – alles Schauplätze Ihres Romans. Welche Stimmungen in Rückkehr nach Budapest spiegeln Ihre eigenen Erinnerungen und Erfahrungen wider? Gibt es bestimmte Orte, die Ihnen besonders wichtig waren?

Ich war sechs Jahre alt, als meine Eltern aus beruflichen Gründen von Budapest nach Ostberlin zogen. Die Sommer meiner Kindheit verbrachte ich bei meiner Großmutter am Balaton, wo auch meine Cousine lebte – wir waren uns sehr nahe. Diese Erinnerungen haben ihren Weg in den Roman gefunden, auch wenn die Handlung und die Figuren reine Fiktion sind. Als Kind zählte ich die Jahre in Sommern, und bis heute liebe ich den Balaton, die Palatschinkenbuden, die heißen Nachmittage am Strand. Ich bin in Berlin-Pankow im Plattenbau aufgewachsen. Als die Mauer fiel, war ich zwölf. Später übte der Prenzlauer Berg mit seinen heruntergekommenen Altbauten eine besondere Faszination auf mich aus. Für unsere Eltern waren Zentralheizung und eine eigene Badewanne Zeichen des gesellschaftlichen Aufstiegs. Für uns Kinder war der »Luxus« des Neubaus schon selbstverständlich, und wir romantisierten die Altbauten mit ihren Kachelöfen und hohen Decken. Ich habe an der Humboldt-Universität studiert und dort meinen Mann kennengelernt. Auch wenn wir seit vielen Jahren nicht mehr in Berlin leben, bleibt die Stadt für uns ein Zuhause.
   

Rykestraße,Berlin Prenzlauer BergRykestraße, Berlin Prenzlauer Berg

Laubengang eines Budapester WohnhausesLaubengang eines Budapester Wohnhauses

 

Die Freundschaft zwischen Márta und Theresa spielt eine ebenso große Rolle wie die Liebesgeschichte mit Konstantin, zu dem sich beide hingezogen fühlen. Worin bestand der Reiz, von dieser Freundschaft zu erzählen?

Mich faszinierte die Ambivalenz der engen Freundschaft zwischen zwei so unterschiedlichen Frauen. Márta ist die Bodenständige, die Aufopferungsvolle, die geduldige Zuhörerin – eine, bei der Menschen wie Theresa ihre Sorgen abladen. Ihre Freundin Katja warnt sie einmal: Nimm dich in Acht, denn es kommt immer mehr, solange du es zulässt – bis wir dich zugrunde gerichtet haben. Theresa hingegen erscheint Márta als schillernd, unbeschwert, als jemand, der im Leben alles in den Schoß gelegt wird. Der Reiz des Neuen und die Sehnsucht nach Freiheit ziehen Márta aus ihrer Enge in Theresas Welt – in die Stadt, ins intellektuelle Milieu, in die Boheme. Doch es braucht fast ein ganzes Leben – einen ganzen Roman – bis sie sich aus dieser Rolle der Selbstaufgabe befreit.


Ihr Roman verwebt persönliche Beziehungen mit der politischen Lage der Zeit. Wie haben Sie die Balance zwischen privater und historischer Realität gefunden?

Eine Liebesgeschichte oder eine Freundschaft wird im Roman immer dann interessant, wenn eine Spannung oder ein Hindernis sie prägt – wenn äußere oder innere Widerstände im Weg stehen. Das kann durch politische Umstände geschehen, etwa wenn ein Regime Menschen trennt oder sie zu Entscheidungen zwingt, die sie unter anderen Bedingungen nie treffen müssten. Aber auch innere Konflikte spielen eine Rolle: Selbstzweifel, Angst, gesellschaftliche Erwartungen oder das subjektive Risiko, das vom Regelbruch ausgeht. Mich hat besonders interessiert, wie sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Sozialismus der 80er-Jahre – in der DDR und in Ungarn – auf menschliche Beziehungen ausgewirkt haben, gerade auch im Vergleich miteinander. Wie sind meine Figuren zu denen geworden, die sie sind? Wie hat ihre Herkunft und Prägung in diesem Umfeld sie geformt? Konstantin zum Beispiel ist tief gezeichnet von seiner sogenannten »sozialistischen Umerziehung« in den Jugendheimen der DDR – eine Erfahrung, die seine Persönlichkeit und sein ganzes Leben prägt.
 

Márta erlebt die DDR als jemand, der von außen kommt. Inwiefern unterscheidet sich ihre Erfahrung von der der Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind? Warum haben Sie sich für genau diese Perspektive entschieden?

Márta stammt aus einem sozialistischen »Bruderstaat«, doch der Sozialismus der 80er-Jahre in Ungarn war von größerer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Offenheit geprägt. Ein gewisser Pragmatismus ermöglichte den Menschen Freiräume, die es in der DDR so nicht gab. Selbst oppositionelle Gruppen genossen eine gewisse Toleranz, auch wenn sie weiterhin überwacht und verfolgt wurden. In der DDR hingegen war es mit einem ungleich höheren Risiko verbunden, sich kritisch zu äußern oder dem Staat zu widersprechen. Márta nimmt diese Unterschiede wahr, doch wie viele andere hat sie echte Opposition nie wirklich kennengelernt – erst an der Universität in Budapest gerät sie in diese Kreise. Die Mehrheit der Menschen – in Ungarn wie in der DDR – arrangierte sich mit dem System, und der Wunsch nach Veränderung wurde oft von den alltäglichen Herausforderungen verdrängt. Ich habe mich auch für diese Perspektive entschieden, weil sie meiner eigenen Erfahrung entspricht. Als Ungarin, die in der DDR aufwuchs, nahm ich das Leben dort aus einer anderen Position wahr. Ich durfte in den Westen reisen – auch wenn wir kaum Westgeld besaßen –, während meine Freunde diese Möglichkeit nicht hatten. Diese Freiheit war für mich als Kind manchmal auch unangenehm, weil sie für andere unerreichbar blieb. Diese Unterschiede prägten mein Verständnis für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse beider Länder.

 

Der neue Roman von Nikoletta Kiss

Rückkehr nach Budapest
eBook 19,99 €
Márta wächst im sozialistischen Budapest auf, am Plattensee, wo sie herrliche Sommer mit ihrer Cousine Theresa verbringt. Doch ohne Theresa ist es einsam, und nach ihrem Schulabschluss entflieht Márta dem trinkenden Vater und reist zu ihr nach Ost-Berlin. Die Freundin nimmt sie mit in die Welt der künstlerischen Boheme, in Hinterhauswohnungen und verrauchte Kneipen, zur Lesung des jungen, regimekritischen Schriftstellers Konstantin.

Er ist umwerfend, rätselhaft, gequält. Beide verlieben sich in ihn, und natürlich ist die extrovertierte und selbstsichere Theresa die Glückliche – bis sie durch einen verhängnisvollen Umstand verhaftet wird. Zwischen den Verbliebenen entsteht eine gefährliche Nähe, ein Verrat liegt in der Luft, der Márta noch Jahrzehnte später verfolgen wird. Aber waren sie damals nicht alle gleichermaßen unschuldig? Und wird es ihr jemals gelingen, aus Theresas Schatten zu treten?

Nikoletta Kiss, die in Budapest und in Berlin aufgewachsen ist und heute in Wien lebt, erzählt stimmungsvoll von einer intensiven Frauenfreundschaft und einem Liebesdreieck in den Wirren der Vorwendezeit – von alten Wunden und der Erfahrung, dass es für Heilung nie zu spät ist.

Nikoletta Kiss, geboren 1978 in Budapest, ist in Berlin aufgewachsen und studierte Betriebswirtschaftslehre an der Humboldt Universität. Sie arbeitete über zwölf Jahre als Unternehmensberaterin in Deutschland, den USA und in Australien. Seit 2016 lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern als Autorin in Wien und ist als Verlagslektorin tätig. 2019 erschien ihr Debütroman Das Licht vergangener Tage.
Nikoletta Kiss, geboren 1978 in Budapest, ist in Berlin aufgewachsen und studierte Betriebswirtschaftslehre an der Humboldt Universität. Sie...

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Vom packenden Roman über poetische Briefe bis hin zur tiefgründigen Analyse: Wir haben Bücher zusammengestellt, die Liebe in unzähligen Facetten zeigen. 
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