»Dein Grab wird außer mir keiner kennen.« Fragen von Alf Mayer an Andreas Pflüger zu Kälter

Dein Roman fängt – abgesehen von der wunderbaren Sprache – ja scheinbar wie einer dieser Inselkrimis an. Wie bist du auf Amrum gekommen?
Ich habe für den Prolog nach dem einsamsten Ort Deutschlands gesucht. Natürlich wäre eine der Halligen noch gottverlassener gewesen, aber dort sind eben keine Polizeidienststellen. Meine Stammleser werden gleich merken, dass es ein ungewöhnlicher Beginn für einen Roman von mir ist. Ruhig, fast elegisch, weltentrückt. Auch für mich war es neu, in einen Thriller nicht direkt mit einem Actiongewitter einzusteigen. Aber ich habe es genossen, meine Heldin behutsam zu entwickeln, denn dadurch wirkt die dann folgende Gewaltexplosion umso stärker. Amrum war nicht zuletzt wegen des dort stationierten Seenotrettungskreuzers, der bei mir zum Einsatz kommt, ideal. Theoretisch hätte ich natürlich einfach behaupten können, es gäbe auf meiner Romaninsel eine solche Basis. Aber so etwas mache ich nur ungern. Auch wenn ich mich generell beim Schreiben nicht sklavisch an die Realität klammere: Glaubwürdig muss es immer bleiben.
Die RAF als Bedrohungspotential zieht sich als Thema durch das Buch, heute fast schon vergessene Materie. Was hat dich daran interessiert?
Dass es ein Teil meiner Lebensgeschichte ist. Ich bin Jahrgang 1957, die RAF ist aus den für mich prägenden Jugendjahren nicht wegzudenken. Damals bin ich mit anderen auf die Straße gegangen und habe »Freiheit für die politischen Gefangenen« gefordert. Zwar war ich schon mit fünfzehn ausgewachsen, aber mein Gehirn brauchte etwas länger, um nachzuziehen. In meinem Umfeld gab es Unterstützer der RAF; einmal habe ich gesehen, wie eine Waffe unter einem Kneipentisch den Besitzer wechselte. In allen meinen Romanen schreibe ich auf die ein oder andere Weise auch über mich. Bisweilen tue ich das versteckt, zum Beispiel in einer Antithese, doch immer wieder bin ich in einer Figur relativ gut sichtbar, jedenfalls für diejenigen, die mich privat kennen. Das ist auch in Kälter so. Ein weiterer Aspekt, der für die RAF-Zeit sprach, war natürlich das Thema Personenschutz. Damit beschäcige ich mich seit vielen Jahren, seit Operation Rubikon, und ich wollte einen Roman schreiben, in dem ich das noch einmal vertiefe. Was bringt jemanden dazu, sich für jemand anderen – einen womöglich Fremden – in eine Kugel zu werfen? Eine komplexe und hochspannende Frage.
Und dann ist da auch viel Berlin, in einer ganz besonderen Zeit, nämlich wenn die Mauer fällt. Wie nah bleibst du dabei an der Wirklichkeit?
Man sollte meinen, dass die Beschreibung der Nacht des Mauerfalls für jemanden, der seit 1979 in Berlin lebt, ein Kinderspiel gewesen wäre. Doch dummerweise war ich von Juli 1989 bis Ende November 1989 nicht in der Stadt, sondern auf Zypern, um an einem Theaterstück zu arbeiten. Ich kenne diese magische Nacht also nur aus Erzählungen, Filmen, der Literatur. Etwa wie jemand, der aus Tahiti ist. Also musste ich das komplett imaginieren. Und was den Realitätsgehalt betrifft: Da war ich bei der Recherche manisch. Vom Ablauf dieser Nacht habe ich ein Zeittableau erstellt, das die Situation an den Berliner Grenzübergängen exakt so abbildet, wie sie minutiös gewesen ist. Sogar den Wortlaut von Lautsprecherdurchsagen habe ich eins zu eins wiedergegeben. Im übrigen geht meine Heldin Luzy in der Nacht des 9. Novembers in den Osten, während alle in den Westen drängen. Eine halbe Ewigkeit habe ich damit verbracht herauszufinden, wie die Leuchtschrift auf dem Haus der Statistik am Alexanderplatz damals lautete. Als ich es endlich hatte, war ich glücklich wie ein Kind. Ja, Recherche kann zur Ausschüttung von Endorphinen führen. Das Einzige, was ich wirklich erfunden habe ist Luzys Begegnung mit einem Zigarre rauchenden traurigen Mann in einer Kneipe in Friedrichshain. Doch mehr darf ich davon nicht verraten.
Lucy Morgenroth ist eine eher ungewöhnliche Actionheldin: übergewichtig und eigentlich zu alt für eine solche Rolle. Oder?
Ungewöhnlich ist sie, in der Tat. Aber das macht am Ende alle meine Heldinnen aus. Zu alt? Nein. Das Fesselnde ist ja gerade, zuzusehen, mit welcher Mühe sie sich wieder in Form bringt, um dann mit der Leistungsfähigkeit auskommen zu müssen, die sie noch hat. Ihr Todfeind Babel sagt einmal zu ihr: »Wenn man dich ansieht, könnte man meinen, du hättest die Zeit besiegt und wärst wieder diese Maschine von damals. Doch bloß fast. Zu wissen, dass du nie mehr so gut sein wirst, muss brutal für dich sein.« Und sie denkt bei sich: Nein, das ist der leichte Teil. Weil sie mit sich im Reinen ist und sich im Grunde nie fragt, ob sie noch reicht, um es mit Babel aufzunehmen. Sie weiß es einfach. So wie sie weiß, dass sie kälter ist als er, auch wenn er es nicht wahrhaben will. »Dein Grab wird außer mir keiner kennen«, prophezeit sie ihm. Babel bedeuten seine Toten nichts. Er hat sie nie gezählt, sie sind für ihn so unbedeutend wie Regentropfen auf seinem Schuh. Luzy hingegen schöpft Kraft aus den Menschen, die sie verloren hat. Weil sie ihr etwas bedeutet haben. Das verschafft ihr einen unschätzbaren Vorteil in diesem Duell, auch wenn Babel jünger, fitter und skrupelloser ist.
Du giltst als jemand, der sich gern neuen Herausforderungen stellt. Was war das dieses Mal actiontechnisch?
Zum einen natürlich der Showdown auf Amrum am Ende des Prologs. Zu diesem Zeitpunkt hat Luzy fünfzehn Kilo zu viel auf den Rippen und raucht wie ein Schlot. Sie kriegt es mit fünf Männern zu tun, die zum Töten ausgebildet sind und ihre Söhne sein könnten. Ich musste in jeder Phase dieser Sequenz deutlich machen, was es sie rein physisch kostet, es mit diesen Killern aufzunehmen. Fünf große Actionkapitel gibt es in Kälter, jedes zehn Seiten lang. Ich mag diese Strenge beim Schreiben, sie hilft mir, alles Überflüssige wegzuschneiden. Am anspruchsvollsten war aus meiner Sicht das Kapitel, das im Nachtzug spielt. Ich hatte mir vorgenommen, die Action hier als Screwball zu erzählen. Das hört sich vielleicht nicht sonderlich spektakulär an, zumal jemand, der wie ich als Gagschreiber fürs Fernsehen begann, einiges dafür mitbringen sollte. Aber es ist ein schmaler Grat, Action lustig wirken zu lassen, ohne dass es affig oder unglaubwürdig wird. Ich wollte komisch UND bretthart sein. Am Ende ist es womöglich das Kapitel geworden, auf das ich am meisten stolz bin. Gerade, weil es so leicht wirkt. Das ist immer das Schwerste. Besonderen Spaß hat es mir gemacht, mir alle alten Filme anzuschauen, in denen es einen Kampf auf dem Dach eines Zuges gibt. Ein ums andere Mal dachte ich: Manche Filme altern wie guter Wein, andere wie Bananen. Der Satz findet sich ja auch im Buch.
Israel spielt eine besondere Rolle. Hier zeigt der Roman ganz viel Herzblut – warum?
Dieses Land ist mir wichtig. Sehr wichtig. Wenn ich mir anschaue, wie schlaff unsere deutsche Politik auf den grassierenden Antisemitismus im Kulturbetrieb reagiert, wird mir schlecht. Der BDS fordert Kauft nicht bei Juden, und Galionsfiguren dieser Bewegung werden bei uns hofiert und kriegen ein Forum für ihre Hetze. An die als »Demonstrationen« daherkommenden Zusammenrottungen von Judenhassern hat man sich hier ja schon gewöhnt. Das scheint im Regierungsviertel oder den Landesregierungen niemanden groß zu stören. Von den deutschen UNO-Stimmenthaltungen bei Anti-Israel-Resolutionen will ich erst gar nicht anfangen. Mit Netanjahu und seinem Kabinett habe ich größte Probleme; es erübrigt sich, das im Einzelnen weiter auszuführen. Aber beim Gaza-Krieg möge man Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Ich zitiere aus dem Nachwort des Romans: Sollte Israel etwa das Abschlachten seiner Menschen, darunter Kinder, schwangere Frauen, Greise, Shoah-Überlebende, untätig hinnehmen? Die Geiseln im Stich lassen? Als ich das Land im Frühjahr 2023 mit meiner Frau bereist habe, hatten wir wundervolle Begegnungen. Die Herzlichkeit vieler Israelis uns Deutschen gegenüber hat mich oft beschämt, müssen doch, so bitter es ist, Synagogen und jüdische Einrichtungen bei uns von der Polizei geschützt werden. Und das im Land der Täter. Mein Herz gehört Israel. Das wird immer so sein. Und ich bin dankbar, dass ich in diesem Roman die Chance hatte, das zu zeigen.
Wir begegnen in »Kälter« auch wieder Personen aus früheren Romanen von dir. Du entwickelst Spaß, deine Romane miteinander zu verknüpfen? Hat das Programm?
Es begann damit, dass ich Richard Wolf, die Hauptfpigur von Operation Rubikon, in der Jenny-Aaron-Trilogie auftreten ließ. Damals geschah das mehr oder weniger aus praktischen Erwägungen. Ich brauchte einen BKA-Präsidenten und war vermutlich zu faul, mir einen neuen auszudenken. (lacht) Dann habe ich den Reiz darin entdeckt, die Biografien von Romanfiguren rückwärts weiterzuerzählen. Mein Lektor Thomas Halupczok nennt das den »Pflüger-Kosmos«. Vermutlich gibt es Leser, die bei jedem neuen Roman von mir schon darauf warten, liebgewordene Personen wiederzufinden. Aber daran denke ich beim Schreiben nicht. Ich tue das für mich, vielleicht, weil ich mich im Innersten dagegen wehre, diese Figuren, die für mich ja wie lebende Menschen, wie Mitglieder meiner Familie sind, wirklich loszulassen. Und noch ein Wort zu meinem Lektor: Er hat jeden meiner Romane besser gemacht, auch diesen, indem er nach dem Prolog fast beiläufig sagte: »Schade, dass Amrum vorbei ist.« Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Darum zieht Amrum sich jetzt durch das Buch, obwohl ich das anfangs nicht geplant hatte. In Luzys Leben steht es für Freundschaft. Und Freundschaft ist das größte Thema überhaupt.
Dieses Interview wurde uns zur Verfügung gestellt von Alf Mayer (CulturMag)
Zum neuen Buch von Andreas Pflüger

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Im Herbst 1989 führt Luzy Morgenroth auf Amrum das Leben einer Provinzpolizistin. Kaum jemand ahnt, dass sie vor langer Zeit eine Andere war. Als in einer Sturmnacht ein Einheimischer spurlos von der Fähre verschwindet, muss sie sich einem Killerkommando stellen, das auf die Insel kam, und verwandelt sich wieder in die Luzy von früher. Eine Waffe.
In einem spektakulären Spionagethriller schickt Pflüger seine Heldin am Ende des Kalten Krieges als Racheengel um die halbe Welt. Sie tritt gegen ein Geheimdienstimperium an, das den Mann beschützt, der ihr Leben zerstörte. Und es wird sich zeigen, wer kälter ist: ihr Todfeind oder sie.