Wann war für Dich klar, dass Du über den Verlust Eures Sohnes schreiben wirst? War es von Anfang an ein Bedürfnis oder hat es sich erst später ergeben?
Im Krankenhaus hatte ich plötzlich diese Literaturstimme im Kopf, mit der ich mir die ganze Zeit erzählt habe, was gerade passiert, direkt vor meinen Augen. Ich fand das fürchterlich, unverständlich, erst später habe ich verstanden, was das sollte, dass da etwas in mir versucht hat, mich zu schützen, mir diese entsetzliche Katastrophe, die an allem in mir gerissen und gezerrt hat, beizubringen, in kurzen Sätzen, in kleinen Beobachtungen. Und ich glaube, so ist es dann auch später gewesen. Gustavs Tod wäre ein riesiges, dunkles Etwas geblieben, permanent präsent und alles überformend und zugleich unfassbar, dem Verstehen und Einsehen entzogen, wenn ich nicht angefangen hätte, es mir von vorn zu erzählen, eins nach dem anderen, sodass alles eine Zeit bekommt, alles einen Ort, den man aufsuchen kann, um sich zu erinnern, den man sogar gestalten kann, weil ich ja entscheide, wie ich von ihm erzählen möchte. Aber den man auch wieder verlassen kann, zumindest für eine Zeit.
Dein Buch ist sehr direkt und vermittelt den schmerzhaften Prozess der Verarbeitung des Erlebten aus nächster Nähe – gab es Momente, in denen Du gezögert hast, bestimmte Szenen aufzuschreiben oder zu veröffentlichen?
Ja, natürlich, und daher ist vieles auch wieder aus dem Text herausgefallen, oder ich habe es gar nicht erst aufgeschrieben. Charlotte und ich haben immer lange gesprochen, haben versucht, uns gemeinsam zu erinnern, und dann habe ich geschrieben, anschließend hat sie gelesen und wir haben wieder gesprochen, dann habe ich überarbeitet, und so fort, und ich glaube, durch diese Arbeit, die immer auch Trauerarbeit war, hatten wir ein sehr genaues Gefühl, was wir über unseren Sohn und über uns erzählen wollten, und was nicht.
Gab es andere Bücher, die Dir in der Situation geholfen oder die Dich zum Schreiben inspiriert haben?
Vor allem ein Theaterstück, durch einen Zufall sind wir bei den Wiener Festwochen in die Inszenierung von
Pieces of a Woman geraten, dem Theaterstück von Kata Wéber und Kornél Mondruczó, auf dem die gleichnamige Netflix-Produktion basiert. Und ich habe irgendwann im Verlauf des Schreibprozesses begonnen, gezielt nach Büchern zu suchen, in denen von verstorbenen Kindern erzählt wird,
Enon von Paul Harding,
Aller Tage Abend von Jenny Erpenbeck, auch
Kurt von Sarah Kuttner, und habe mich mit diesen Schreibweisen – auch kritisch – auseinandergesetzt. Daraus ist eine längere Passage im Buch entstanden, in der ich mein eigenes Schreiben zu reflektieren versuche. Mir fiel nämlich auf, dass literarische Texte häufig von verstorbenen Kindern sprechen, wenn es um eine Zäsur in der Handlung gehen soll, um eine Differenz zwischen einem Davor und einem Danach, bei der die Zäsur selbst aber, also der Tod des Kindes, kaum beschrieben oder geschildert wird, nur angedeutet mit einigen wenigen Schlaglichtern.
Für immer seh ich dich wieder geht hier anders vor, und ich habe mich damit – zumindest teilweise – in
Pieces of a Woman sehr wiedergefunden. Das Stück spricht viel deutlicher und klarer und genauer von der Welt, in der wir leben. Und in der wir zurechtkommen müssen.
Blick aus dem Fenster in Beijing
Du beschreibst den bürokratischen Umgang mit dem Tod Deines Kindes. Was hat Dich daran besonders erschüttert – oder vielleicht auch getröstet?
Die bürokratischen Vorgänge waren letztlich nur ein Spiegel der Gesellschaft, in der wir leben, und in dieser Gesellschaft gibt es eine Tendenz, sich das Unangenehme vom Leib zu halten, so als würde es dadurch leichter, besser oder angenehmer, was für einige durchaus der Fall sein mag, aber es führt dazu, dass es sehr wenig Wissen darüber gibt und sehr wenig Praxis, wie man damit umgeht, wenn ein Kind stirbt, und wie man mit denen umgeht, die damit umgehen müssen, dass ihr Kind gestorben ist. Zum Beispiel kam es immer wieder dazu, dass wir Menschen auffangen, aufbauen, aufhelfen mussten, nachdem sie erfahren hatten, dass unser Kind gestorben war. Wir waren in der Situation dann die Trauerprofis, weil wir ja nichts anderes mehr taten, als mit Gustavs Tod klarzukommen, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde, also halfen wir auch ihnen, damit klarzukommen. Aber zugleich war es absurd, weil uns war ja der wichtigste Mensch genommen worden, und doch mussten wir fortwährend trösten, anderer Leute Emotionen einfangen, auch wenn wir eigentlich gerade nur eine Auskunft bei einer Behörde brauchten oder im Smalltalk gefragt wurden, ob wir Kinder hätten. Ich glaube, es braucht einen anderen Umgang mit Tod, mit Trauer und auch mit der schrecklichen Tatsache, dass Kinder sterben, denn diese Verdrängung tut niemandem gut.
Im Buch geht es auch um verschiedene Reisen, unter anderem nach Indonesien und nach Wien. Welche Rolle haben diese Ortswechsel für Deine Trauer gespielt?
Eine sehr wichtige. Und eine symbolische. Weil die Kilometer, die wir zurückgelegt haben, uns auf eine Weise zeigten, dass wir nicht stehenbleiben, dass wir weitergehen, dass wir nicht versinken in Dunkelheit und Bitterkeit, sondern dass wir noch immer auf der Reise sind, und Gustav bei uns ist, immer und überall.
Welchen Stellenwert haben die Begegnung mit den Tempelritualen und den kulturellen Traditionen Deiner Familie in Indonesien für den Prozess der Trauerbewältigung?
Im Buch schreibe ich sehr viel über buddhistisch-hinduistische Opferrituale, über Liturgien, über biblische Texte, über Gedichte, allen voran natürlich über Ingeborg Bachmanns Übertragung von Giuseppe Ungarettis
Per sempre, aus der auch der Titel des Buches entlehnt ist. All das waren Referenzen auf das metaphysische Bedürfnis, das mich und uns sehr stark begleitet hat. Ich glaube, man kann sich viel vom Leib halten, wenn man abstrakt und ganz allgemein über den Tod spricht oder über den Planeten, auf dem wir durch das All rasen. Aber wie sehr wir eigentlich ausgeliefert sind, den stochastischen Verteilungen im Weltall oder einem rätselhaften göttlichen Willen, je nach dem, das spürt man erst, wenn es aus heiterem Himmel über einen hineinbricht. Und man doch nicht verzweifeln darf an der Welt. Das würde auch Gustav nicht wollen.
Zwei Himmelswächterfiguren für Gustavs Grab
Yannic und Charlotte an einem Badesteg in Grado
Canang Sari an Gustavs Grab
Alle Fotos: © Yannic Han Biao Federer