Lea Ypi spricht über ihr Buch Frei

Albanien 1989: Der letzte stalinistische Außenposten in Europa, ein isoliertes Land, das man nur schwer besuchen und noch schwerer verlassen kann. Als das Land im Chaos zu versinken droht und in ihrer Familie Geheimnisse ans Licht kommen, beginnt Lea sich zu fragen, was das eigentlich ist: Freiheit.

Mit freundlicher Genehmigung von Lea Ypi & Penguin Random House UK.

Lesen Sie die Transkription des Gesprächs

Ich habe mich als Kind sehr für Freiheit interessiert, weil man uns stets dazu angehalten hat, Freiheit wichtig zu nehmen. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, ich bin frei und lebe in einem freien Land.
Hi, ich bin Lea Ypi. Ich bin Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics and Political Science. Dies ist die Geschichte meiner Kindheit und Jugend in Albanien, dem letzten stalinistischen Außenposten in Europa.

Albanien ist ein kleines Land. Von 1945 bis 1990 war es kommunistisch. Dann änderte sich alles, der Kommunismus brach zusammen und wir bekamen einen liberalen Staat.

AUFWACHSEN
Die Kindheit war in Albanien sehr eintönig. Man ging zur Schule, trug eine Schuluniform und, wenn man bei den Pionieren war, ein rotes Halstuch. Wir gingen jeden Tag zur Schule, nur sonntags nicht. Wenn wir nach Hause kamen, waren die Eltern normalerweise auf der Arbeit. Daher waren die Großeltern sehr wichtig. Sie passten auf die Kinder auf, während die Eltern arbeiteten.
Die Gesellschaft war äußerst politisiert, und den Kindern wurde ein starkes politisches Bewusstsein anerzogen. Sie sollten sich als Teil des sozialistischen Staates verstehen und stolz darauf sein. Ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, anders zu sein. Ich wusste auch, dass Albanien als Land anders war.
In Albanien aufzuwachsen bedeutete, dass Informationen über andere Länder von der Partei zensiert wurden. Menschen wurden bestraft, wenn sie verbotene Filme ansahen oder verbotene Bücher lasen, die nichtsdestotrotz aus dem Westen oder aus Sowjetrussland eingeschmuggelt wurden. Daneben konnte man, vor allem in Durrës an der Adriaküste, wo ich großgeworden bin, oft ein italienisches Fernsehsignal empfangen.
Unser Wissen über andere Länder stammte entweder aus Informationen des staatlichen Fernsehens, die durch den Filter der Staatspropaganda gegangen waren und die Sicht der Partei wiedergaben, oder aus der Zeitung. Oder aber aus Informationen, die unzensiert über andere Wege zu uns kamen und unter Strafe verboten waren. Aber viele hatten trotzdem Zugang dazu und interessierten sich sehr dafür.
Auch Waren aus anderen Ländern schafften es nach Albanien. Oft wurden sie von Seeleuten oder von Lastwagenfahrern mitgebracht, die albanische Waren in andere Länder exportierten. Ich erinnere mich, wenn man großes Glück hatte, brachten Verwandte oder Freunde, die im Ausland waren, einem Kugelschreiber oder Nylonstrümpfe mit. Manchmal auch Kaugummi oder Süßigkeiten mit einem Etikett, das anders aussah als die Etiketten bei uns in Albanien. Wir sammelten die Kaugummipapierchen, tauschten sie untereinander in der Schule und spielten damit.

DER ZUSAMMENBRUCH DES SOZIALISMUS
1990 gab es mehrere Demonstrationen. Im Dezember 1990 fand an der Universität von Tirana eine Kundgebung statt. Begonnen hatte alles als Protest von Studierenden, die bessere Lebensbedingungen forderten. Das war ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer. Bis dahin waren wir davon ausgegangen, dass viele der Veränderungen, die sich auf Ost- und Mitteleuropa, die Sowjetunion und den Kalten Krieg auswirkten, uns in Albanien, das außerhalb des Einflussbereichs der Sowjetunion lag, nicht zwangsläufig betreffen würden, und dass wir unseren eigenen Weg zum Sozialismus wie gehabt weiterverfolgen würden. Doch mit der Studierendenbewegung im Jahr 1990 setzte auch in Albanien der Wandel ein.

Wie groß dieser Wandel war, wurde mir in dem Moment bewusst, als wir vor einem Fernseher standen und der Sekretär der Albanischen Arbeiterpartei, in der die Kommunisten zu Hause waren, erklärte, dass politischer Pluralismus nicht länger eine Straftat sei und dass es neue und freie Wahlen geben würde. Ich weiß noch, wie merkwürdig ich das fand, denn ich hatte bis dahin nie daran gezweifelt, dass Wahlen frei sind. Ich hatte meine Eltern wählen sehen. Ich hatte eine Art Wahlkampf miterlebt. Und ich hatte die Begeisterung der Menschen am Wahltag gesehen. Im Kommunismus wurde für gewöhnlich sehr früh morgens gewählt. Alle gingen früh los und standen schon um fünf oder sechs Uhr an, um zu wählen. Um neun wurde bereits das Ergebnis kundgetan.
Irgendwann, das weiß ich noch, rief der Sekretär der Albanischen Arbeiterpartei den politischen Pluralismus aus. Und meine Eltern sagten: »Jetzt gibt's freie Wahlen.« Anschließend erklärten sie mir, was das bedeutet: ein Mehrparteiensystem, in dem Parteien mit unterschiedlichen Parteiprogrammen zur Wahl stehen und aufgrund dieser Programme entscheiden, welche Maßnahmen und Gesetze sie verabschieden.
Auch das war für mich sehr verwirrend. Und ich weiß noch, wie ich zu einer Freundin meinte: »Was entscheiden die wohl?« Und dann sprachen wir über Gott und darüber, ob die Parteien nun sagen werden, dass es Gott gibt, und ob Gott dadurch existiert oder nicht ... Wir hatten endlose Diskussionen darüber, was bei Neuwahlen wohl alles zur Disposition stehen würden. Nichts war sicher.

FREIHEIT
Ich habe als Kind viel über Freiheit nachgedacht, weil man uns in der Schule beigebracht hat, dass Freiheit wichtig ist. Wir lebten in einem Land, das sozialistische Ideale hochhielt und in dem der Sozialismus als Befreiungstheorie galt, die die Ausgebeuteten und Unterdrückten der Welt emanzipieren würde und Albanien bereits vom Joch des Faschismus befreit und zur Unabhängigkeit verholfen hatte. Freiheit war mir wichtig, weil uns gesagt wurde, wir sollen sie wichtig nehmen. Ich weiß noch, dass ich immer dachte, ich wäre frei und würde in einem freien Land leben, das danach strebt, Freiheit umzusetzen. Und dann 1990 änderte sich zum ersten Mal etwas. Ich spürte plötzlich einen Unterschied zwischen meiner Vorstellung von der Gesellschaft, in der ich lebte, und den Reaktionen meiner Eltern auf den Wandel.
Die Konflikte und die Fragen hinsichtlich unserer Vorstellungen und unserem Erleben von Freiheit und Verantwortung sind heute in gewisser Weise immer noch mein brennendstes Thema und daher prägend für mein Buch. Durch die unterschiedlichen Personen, die in meinem Leben eine Rolle spielen, sind mir unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit untergekommen, die charakteristisch waren für die jeweilige Person und ihr Handeln in der Welt bestimmt haben.
So verkörpert meine Mutter für mich beispielsweise etwas, das man eine negative Vorstellung von Freiheit nennen könnte: Man ist frei, wenn der Staat einem nicht sagt, was man zu tun oder anzuziehen oder zu sagen hat. Das ist ein komplett illiberaler Freiheitsgedanke. Mein Vater dagegen hatte einen etwas anderen Freiheitsbegriff, den man als positiven Freiheitsbegriff bezeichnen könnte: Freiheit heißt, gewisse Dinge tun zu können und Zugang zu verschiedenen Möglichkeiten zu haben. Und dann war da noch meine Großmutter mit ihren, wie ich es nenne, sehr moralischen Vorstellungen von Freiheit. Sie war in einem System und einer Gesellschaft des Privilegs aufgewachsen. Als sie nach Albanien kam, wurde sie verfolgt, mein Großvater kam ins Gefängnis, sie wurde abgeschoben, verlor all ihre Privilegien und musste Feldarbeit verrichten. Und trotzdem war sie nie der Ansicht, dass sie ihre Freiheit verloren hatte. Denn für sie bedeutete Freiheit Folgendes: Solange man seine Würde behält, genießt man die höchste aller Freiheiten, die moralische Freiheit. Meine Großmutter war trotz aller Veränderungen ihrer Lebensumstände und der Unterdrückung um sie herum immer davon überzeugt, moralisch frei zu sein und auch die Freiheit zu haben, verantwortlich handeln und Verantwortung für ihr Handeln übernehmen zu können, ungeachtet der strukturellen Zwänge dieses Handelns.
Freiheit kann durch ganz unterschiedliche Faktoren gehemmt werden. In einer sozialistischen Gesellschaft, zumindest in der, die wir in Albanien hatten, waren diese Einschränkungen der Freiheit spürbar. So konnte man beispielsweise nicht anziehen, was man wollte, nicht gehen oder reisen, wohin man wollte und nicht alles sagen, was einem in den Sinn kam, weil es eine staatliche Zensur gab. Daher existierte ein sehr signifikanter und umfassender Mangel an Freiheit. Andererseits konnte man all diese Dinge in einer liberalen Gesellschaft auch nicht unbedingt tun. Aber nicht, weil man es nicht durfte, sondern weil es den Menschen aufgrund gewisser Strukturen sehr schwer gemacht wurde, ihre Ziele zu verwirklichen. Ja, man konnte überall hinreisen, aber nicht ohne Geld. Ja, man konnte überall Urlaub machen. Aber wenn man sich keinen Urlaub leisten konnte, weil man mehrere Jobs hatte und den Lebensunterhalt für die Familie nicht verdienen konnte, dann hatte auch das keine Bedeutung.
Wenn wir Freiheit auf diese umfassendere Weise begreifen und darüber nachdenken, was Freiheit wirklich bedeutet, lässt sich schwerlich behaupten, dass sie für alle und überall auf der Welt verwirklicht wurde. Ich habe den Eindruck, wir leben in Gesellschaften, die sehr gespalten sind und gekennzeichnet von Ungleichheit in Bezug auf soziale Herkunft, ethnische Zugehörigkeit und Gender. Und je nach dem, zu welcher Gruppe innerhalb dieser Kategorie man gehört, beeinflusst das die eigenen Chancen auf Freiheit. Mir scheint, als sei die Vorstellung, dass alle frei sind und wir alle in einer freien Gesellschaft leben, einfach nicht die Realität. Sie ist im Grunde fast schon eine Art ideologische Wahnvorstellung, der wir alle verfallen sind.
Genauso wie ich im kommunistischen Albanien aufgewachsen bin und immer dachte, ich bin frei, gibt es in unseren Institutionen meiner Ansicht nach eine ähnliche Form von ideologischer Verblendung, wenn wir sagen, wir sind frei und setzen uns für Freiheit ein. Denn die Risse im System sind weithin sichtbar, ebenso wie die Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung und all die Dinge, die uns daran erinnern, dass es irgendwo immer Menschen gibt, deren Freiheit extrem eingeschränkt ist.

Übersetzung: Gaby Gehlen

Frei

Bestseller
14,00 €
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Lea Ypi, geboren 1979 in Tirana, Albanien, ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics, Mitglied der British Academy und der Academia Europaea sowie Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie hat unter anderem in Paris, Oxford, Stanford, Berlin und Frankfurt am Main geforscht und gelehrt, regelmäßig schreibt sie für The Guardian. Ihr autobiographisches Sachbuch Frei, das in mehr als 35 Sprachen vorliegt, gewann den renommierten Ondaatje Prize sowie den Slightly Foxed First Biography Prize. Außerdem wurde es für die Bühne adaptiert.
Lea Ypi, geboren 1979 in Tirana, Albanien, ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics, Mitglied der British Academy und...


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