Was ist Neostrukturalismus?
Die Vorlesungen, die Manfred Frank der Frage »Was ist Neostrukturalismus?« gewidmet hat, sind aus der Situation motiviert, daß zwischen den Hauptströmungen der Philosophie Frankreichs (dem Neostrukturalismus) und Deutschlands (Hermeneutik und kritische Theorie des Subjekts) so gut wie kein Gespräch existiert. Dieses Fehlen eines Dialoges hat, so die These Franks, zur Konsequenz, daß weder die Hermeneutik die Tiefe des strukturalistischen Arguments gegen die Zentralität des Subjekts ermessen...
Die Vorlesungen, die Manfred Frank der Frage »Was ist Neostrukturalismus?« gewidmet hat, sind aus der Situation motiviert, daß zwischen den Hauptströmungen der Philosophie Frankreichs (dem Neostrukturalismus) und Deutschlands (Hermeneutik und kritische Theorie des Subjekts) so gut wie kein Gespräch existiert. Dieses Fehlen eines Dialoges hat, so die These Franks, zur Konsequenz, daß weder die Hermeneutik die Tiefe des strukturalistischen Arguments gegen die Zentralität des Subjekts ermessen noch der Strukturalismus/Neostrukturalismus bis an die Wurzeln einer tragfähigen Theorie des Subjektes gefragt hat. Um diese Fragmentierung zu überwinden, stellt Frank seine Vorlesungen unter das Leitthema: Wie kann man einerseits der fundamentalen Tatsache gerecht werden, daß Sinn, Bedeutung und Intention – die semantischen Fundamente jeden Bewußtseins – sich nur in einer Sprache, einer sozialen, kulturellen und ökonomischen Ordnung bilden können (in einer Struktur)? Wie kann man andererseits den fundamentalen Gedanken des neuzeitlichen Humanismus retten, der die Würde des Menschen an den Gebrauch seiner Freiheit bindet und nicht duldet, daß man der faktischen Bedrohung menschlicher Subjektivität durch den Totalitarismus der Regelsysteme und sozialen Codes moralisch Beifall spendet?
I. Auf der Suche nach einer vorläufigen Definition von »Neostrukturalismus«
2. Vorlesung: Der Neostrukturalismus als ein Denken im kritischen Anschluß an den klassischen Strukturalismus. Dessen Saussuresches Fundament.
3. Vorlesung: Saussures vermeintlich orthodox-strukturalistische Nachfolger. Das Beispiel Lévi-Strauss und die Erweiterung der linguistischen Basis auf soziale Strukturen und »Diskurse«.
4. Vorlesung: Auflösungserscheinungen der klassisch-taxonomistischen Version des Strukturalismus in Lévi-Strauss’ Spätwerk. Die Überbietung der strukturalistischen Selbstkritik durch den Neostrukturalismus. Die Idee einer nicht-geschlossenen und dezentralen Struktur als »Keimgedanke« des Neostrukturalismus.
5. Vorlesung: Derridas anti-metaphysische Überbietung Saussures und die Konzeption eines entgrenzten Textes. Kritik der Idee einer »semantischen Identität« (von Zeichen, Aussagen, Äußerungen). Eine erste Definition von »Neostrukturalismus«. Übergang zu einer historischen Perspektive: Lyotards La condition postmoderne als Versuch einer Geschichtsschreibung der neostrukturalistischen Dekonstruktion.
II. Drei Fragen an den Neostrukturalismus
6. Vorlesung: Die erste Frage: Das geschichtsphilosophische Fundament des Neostrukturalismus und seine Erklärung des Phänomens der Geschichtlichkeit. Die allgemeine Situation der nachhegelianischen Philosophie. Bedeutung der romantischen Vorläuferchaft. Der gemeinsame Ausgangspunkt der Hermeneutik und des Neostrukturalismus in Heidegger: Gadamer einerseits, Althusser und Foucault andererseits. Verlust des Glaubens an einen absoluten, sich selbst durchsichtigen Ausgangspunkt der Philosophie. Vier kritische Fragen an Heideggers Geschichts-Paradigma, sofern es sich bei seinen französischen Nachfolgern reproduziert.
7. Vorlesung: Ein Beispiel neostrukturalistischer Wissenssoziologie und Geschichtsphilosophie: Foucaults Archäologie. Beginn einer kritischen Lektüre von Les mots et les choses. Einführung in sein Denken und in seine Begrifflichkeit.
8. Vorlesung: Fortsetzung der Lektüre. Zweideutigkeiten in Foucaults Stellung zum Repräsentationsmodell der Aufklärung. Seine Erklärung der Epochenschwelle Aufklärung (Repräsentation) - Romantik (Geschichte).
9. Vorlesung: Fortsetzung der kritischen Lektüre. Foucaults Verhältnis zu den modernen (nachromantischen) Geschichtswissenschaften. Seine Deduktion der »sciences humaines«. Widersprüche und/oder Unklarheiten seiner Ablehnung des Historismus und der Geisteswissenschaften, einschließlich eines Denkens am Leitfaden des »Subjekts«.
10. Vorlesung: Fortsetzung. Schwierigkeiten der Archäologie, ihre eigene Geschichte und ihren methodologischen Status zu bestimmen, ohne Anleihen bei den »sciences humaines« zu machen. Notwendigkeit einer hermeneutischen Selbstreflexion des archäologischen Verfahrens.
11. Vorlesung: Foucaults »Discours de la méthode«, die Archéologie du savoir. Neudefinition des Terms »discours«. Die Methode der »Archäologie« in Abgrenzung sowohl gegen das Subsumtionsmodell des Strukturalismus wie gegen das historische Denken in Kontinuitäten. Bedeutung des »individuellen Moments«. Ausblick auf L’ordre du discours.
12. Vorlesung: Foucaults jüngere Machttheorie als Fundierung seiner »Archäologie«. Perspektiven und Aporien des Ansatzes, der eine Gesellschaftskritik ohne Ethik versucht und dabei auf vitalistisch-sozialdarwinistische Kategorien regrediert. Unhaltbarkeit der Vorstellung von einer »diskursiven Polizei«.
Übergang zur zweiten Frage, der Frage nach dem Subjekt. Die romantische und die Heideggersche Subjekt-Kritik. Subjektivität als Fluchtpunkt metaphysischer Seinsauslegung. Vier Einwände gegen Heideggers seinsgeschichtliche Genealogie von Subjektivität, die auch gegen seine neostrukturalistischen Anhänger gelten.
13. Vorlesung: Nietzsches Vorläufertum: seine Genealogie des Selbstbewusstseins als Epiphänomen des Willens zur Macht. Vorbereitung der sprachphilosophischen Transformation der Subjektivität-Problematik.
14. Vorlesung: Der linguistic turn als gemeinsame Basis der hermeneutischen, sprachanalytischen und neostrukturalistischen Überschreitung des Subjekt-Paradigmas der klassischen Philosophie. Parallelen zwischen Tugendhats und Derridas Kritik der Husserlschen Bewusstseinsphilosophie.
15. Vorlesung: Husserl über »Selbstbewusstsein« als Prinzip apodiktischer Evidenz. Sein Verhaftet-Bleiben im Reflexionsmodell. Derridas Konsequenzen daraus. Die Unhintergehbarkeit und zugleich Unkontrollierbarkeit sprachlich vermittelten Sinns. Nicht-Koinzidenz der Relate der Selbstbeziehung.
16. Vorlesung: Die Spaltung der »lebendigen Gegenwart« durch den Fluß des inneren Zeitbewusstseins bei Husserl. Identität und Nicht-Identität des Selbst. Derridas Konsequenz, die Transzendentalphilosophie auf die »différance« neuzugründen.
17. Vorlesung: Derridas These, seine Philosophie unterhalte »tiefe Affinitätsbeziehungen zur Hegelschen«. Vergleich der »différance« mit Hegels Theorie der »autonomen Negation« (nach Dieter Henrich). Verhaftetheit beider im Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins.
18. Vorlesung: Kritik an Derridas Reduktion von Selbstbewusstsein auf einen Effekt differentieller Beziehungen zwischen »marques«. Vergleich mit den Aporien der Subjekt-Theorie des »neutral monismus«. Kritische Abgrenzung von der Bewusstseinstheorie des authentischen Saussure.
Beginn der Einführung in die Subjekttheorie Jacques Lacans. Das »wahre« und das »narzisstische Subjekt«. Vergleich mit der Hermeneutik.
19. Vorlesung: Lacans Descartes-Kritik und Vergleich mit Schellings Descartes-Auseinandersetzung. Subversion des Subjekts durch die symbolische Ordnung. Bestimmung der Seinsweise des »wahren Subjekts« und seines Verhältnisses zum Subjekt der Reflexion. Einwände gegen Lacans Reflexionsmodell und mechanistischen Reduktionismus.
20. Vorlesung: Ein Ausblick auf neuere neostrukturalistische Kritiken eines Denkens am Leitfaden der Subjektivität: Beginn der kritischen Lektüre von Capitalisme et schizophrénie I: L’Anti-Edipe der Autoren Deleuze und Guattari. Überbietung des Lacanschen Modells einer psychischen Maschine durch die Idee von Wunschmaschinen. Kritik des Repräsentationsmodells auf selbstrepräsentationsistischer Grundlage, der Idee einer Selbstrepräsentation des Willens im Bereich der Vorstellung (Schopenhauer, Nietzsche). Odipus als Garant einer repressiven Ich-Identität. Idee einer apersonalen Wunschstruktur: die Schizophrenie-Theorie der Verfasser.
21. Vorlesung: Kritik der Idee eines »décodage déchainée et sans réserve« im Anti-Edipe. Die nicht-ausschließende Disjunktion als Verknüpfungsmodus der Wunschfluten im Primärprozeß. Missverständnis der vom grammatischen System ausgehenden Zwänge. Unhaltbare theoretische, ethische und politische Konsequenzen des Buches. Sein Hang zum Gefährlichen Denken, seine Unfähigkeit, sich von einem faschistoiden Anarchismus abzugrenzen.
22. Vorlesung: Capitalisme et schizophrénie II: Mille Plateaux. Was ist ein »Rhizom«? Die neue Argumentationsstrategie der Autoren. Die Idee einer nicht von der Einheit eines Subjekts dominierten, unreglementierten Entfaltung des Multiplen. Prinzipien einer dezentralen Verkettung von Elementen, die als Individuen zu denken waren (singularités). Interesse an der Rettung der Einzelphänomene und der Einzelsubjekte. Vergleich mit der romantischen Individualhermeneutik.
23. Vorlesung: Vertiefung des Engagements für das Individuelle und Nicht-Identische in der Subjekttheorie von Deleuzes Différence et répétition. Deleuzes Idee der Wiederholung als Veränderung — in Abgrenzung gegen das Rekursionsmodell der Taxonomie. Das Nicht-Identische in der Wiederholung als »élément individuel«. Skizze einer Begriffsgeschichte von »Individuum/Individualität«. Individualität als das Ärgernis schlechthin für Metaphysik und Wissenschaft seit der griechischen Philosophie bis hinein in die Sprachwissenschaft und Subjekttheorie unserer Tage. Zwei Ausnahmen: Schleiermacher und Sartre. Deleuzes Widerspruch gegen die szientistische Option fürs Allgemeine. Seine Schwierigkeit, Individualität gleichwohl als Subjektivität zu denken. Berufung auf Kants Schematismus.
24. Vorlesung: Lässt sich Wiederholung/Veränderung ohne jeden Rekurs auf eine selbstbewusste Identität denken? Der »dunkle Vorläufer« als Skizze eines scheiternden Lösungsversuchs. Vergleich mit Peirces abduktiven Urteil. Vergleich mit Saussures zweitem Cours. Sprachphilosophische Konsequenzen. Anleihen bei und Umdeutung der pragmatischen Sprachphilosophie, insbesondere der Sprechakt-Theorie.
25. Vorlesung: Übergang zur dritten an den Neostrukturalismus zu richtenden Frage: Wie erklärt er Sinn und Bedeutung? Ansätze einer pragmatischen Bedeutungstheorie in Mille Plateaux. Deutung der »illocutionary force« als Wunsch-Äußerung. Reduktion aller Äußerungstypen auf die »mots d’ordre«. Schwierigkeiten im Gedanken eines selbstapplikativen Sprechakts.
Derridas Rezeption und Transformation des angelsächsischen Pragmatismus. Seine Auseinandersetzung mit Austin und Searle. Unkontrollierbarkeit der pragmatischen Sinneffekte. Kritik des Code-Modells. Anfechtung der Rekursion von sprachlichen »Typen«.
26. Vorlesung: Derridas Auseinandersetzung mit der Zeichentheorie Husserls (La voix et le phénomène). Idealität des Sinns als Voraussetzung oder als Resultat seiner Wiederholbarkeit? Der Sonderfall des Index-Wortes »ich«. Nicht-Gegenwart jeder Bedeutung und Aussetzen von Husserls »Prinzip aller Prinzipien«: der »selbstgebende Anschauung«. Die überzogene Radikalität von Derridas Konsequenz für eine Semantik.
27. Vorlesung: Kritik an Derridas Konsequenz. Eine absolut gesetzte Differenzierung würde selbst eine hypothetische Bedeutungszuweisung ausschließen. Vergleich mit Lacans Bedeutungstheorie. Skizze einer Neubegründung der Semantik auf hermeneutischer Grundlage: Schleiermacher, Peirce und Saussure. Jeder Zeichengebrauch und jede Zeichenidentifikation gründen in einem systematisch motivierten, aus dem Code aber nicht ableitbaren hypothetischen Urteil: der Interpretation.
Anhang: Vom unausdeutbaren zum undeutbaren Text: Zwei Vorlesungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Poetik bei Derrida.
Suhrkamp Verlag GmbH
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
Suhrkamp Verlag GmbH
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de

