»Wenn Sie in den letzten Jahren und Monaten die Wochenend-Feuilletons unserer großen deutschen Zeitungen durchgeblättert haben, wird Ihnen im Rahmen der Kulturkritik ein Thema immer häufiger begegnet sein: dasjenige der Aufarbeitung, der Wiederaufrichtung mythisch-religiöser Sinnzusammenhänge, und zwar vom sozialen Leben selbst bis hin zum Film. Vom sozialen Leben selbst, sage ich, und meine damit, daß die Gesellschaft, das Gesamt der Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer staatlichen...
»Wenn Sie in den letzten Jahren und Monaten die Wochenend-Feuilletons unserer großen deutschen Zeitungen durchgeblättert haben, wird Ihnen im Rahmen der Kulturkritik ein Thema immer häufiger begegnet sein: dasjenige der Aufarbeitung, der Wiederaufrichtung mythisch-religiöser Sinnzusammenhänge, und zwar vom sozialen Leben selbst bis hin zum Film. Vom sozialen Leben selbst, sage ich, und meine damit, daß die Gesellschaft, das Gesamt der Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer staatlichen Gemeinschaft, ihre sogenannte ›Sinnkrise‹ zunehmend in Kategorien einklagt, die der religiösen Sprache entnommen sind. Das Problem, das in der gegenwärtigen ›Sinnkrise‹ uns aufgegeben ist, ist aber älter als das, wovon die Zeitungen sprechen. Soviel ich sehe – und alle kommenden Vorlesungen werden diese Behauptungen Stück um Stück zu begründen versuchen –, war es die deutsche Romantik, die als erste Epoche der neueren Zeit das Problem der Entfremdung von Staat und Gesellschaft (das des ›Systems der Mittel‹ und der Sinnforderungen der Bürger) als das Problem eines Legitimationsverlustes beschrieben und in einer religiösen Terminologie bearbeitet hat. Wenn die Romantiker sich mit dem ›Mythos‹ beschäftigten, so war ihnen vor allem um Folgendes zu tun: um welche Art von gesellschaftlicher Handlung – so fragten sie sich – handelt es sich eigentlich bei der Mythenüberlieferung. Und sie antworteten: Mythen (und religiöse Weltbilder) dienen dazu, den Bestand und die Verfassung einer Gesellschaft aus einem obersten Wert zu beglaubigen. Man könnte das die kommunikative Funktion des Mythos nennen, weil sie auf das Verständigtsein der Gesellschaftsteilnehmer untereinander und auf die Einträchtigkeit (oder doch: Vereinbarkeit) ihrer Wertüberzeugungen abzielt.«
Die Gegenwärtigkeit des Mythos, demonstriert an drei zeitgenössischen Texten (H. E. Richter, H. Blumenberg, L. Kolakowski).
Ein erster Versuch, Mythos zu definieren; die Theorieabhängigkeit jeder Definition. Mythos als Beglaubigung (als Legitimation) von sozialen oder kulturellen Praktiken. Die Unterscheidung des Kults vom Mythos und die romantischen Quellen dieser Unterscheidung. F. Creuzer, J. J. Bachofen, Nietzsche.
Ein zweiter Versuch, Mythos zu definieren. Zeichenfunktion und Symbolismus. Die synthetische Option des Mythos und ihre Kritik von seiten der Aufklärung (des analytischen Geistes).
Herders Rehabilitation des Mythos. Seine Polemik gegen Klotz im Essay ""Über den neueren Gebrauch der Mythologie"". Herder und seine Zeitgenossen. Versuche, eine neue Mythologie durch Anknüpfen an die eddische Mythologie zu begründen. Herders eigene Idee einer neuen Mythologie im Iduna-Dialog.
Die Herder-Nachfolge der Frühromantik. Der Entwurf einer Neuen Mythologie im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus. Das staatskritische Fundament der Neuen Mythologie: Staatsgemeinschaften im Dienst der Ideen und ideenlos funktionierende Gesellschaften. Die Mechanismus-Organismus-Unterscheidung. Ihr Fundament bei Kant. Ihre Vorgeschichte von Hobbes bis Fichte. Die romantische Gleichsetzung des bürgerlichen Staats mit einer Maschine. Parallelen zum Ansatz der Kritischen Theorie.
Die romantische Idee einer Neuen Mythologie (Lessing, Novalis, Fr. Schlegel, Schelling, Marx, Baader). Notwendigkeit der Wiedergeburt einer allgemeinen Symbolik. Mythologie, Poesie, politische Utopie. Mythos und allgemeine Mitteilbarkeit (Öffentlichkeit).
Politisierungen der romantischen Idee einer Neuen Mythologie im französischen Frühsozialismus und bei Richard Wagner. Sartres Anknüpfen ans Postulat der Öffentlichkeits-Bindung der Kunst. Der Symbolismus des L'art-pour-l'art als eine Art artifizieller Mythologie (Mallarmé).
Esoterische (mysterische) und exoterische (geoffenbarte) Religion. Dionysos als Thema der Mysterien und als der Offenbarer. Hegels Eleusis. Christus als der letzte Gott (Schelling). Reich Gottes, Beginn der Interpretation von Hölderlins Brod und Wein. Wer ist der kommende Gott? Die romantische Rezeption der Dionysos-Mythen. Dionysos als der Gemeinschafts-Gott.
Die enharmonische Verwechslung des Dionysos und Christi bei Hölderlin, in der Romantik und in der Antike.
Weitere (antike und romantische) Belege für die Gleichung Christi und des Dionysos. Die orphische Tradition der drei Dionyse. Das göttliche Kind in der Krippe als Sohn der Demeter oder der Maria. Abendmahl und Omophagie. Philosophie der Mythologie und der Offenbarung. Kanne, Creuzer u. a. über Mysterium und Christentum. Antike und moderne Heilserwartung. Der kommende Gott und seine immer noch ausstehende Wiedergeburt. Der Auftrag an die bürgerliche Gesellschaft, dem Gott die Ankunft leichter und den Weg kürzer zu machen als bislang."
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