Jáchym Topol über osteuropäische Literatur

Jáchym Topol beschreibt in seinem Beitrag die »Twilight Zone«, das »Secondhand-Europa«, sein Zuhause, das er nicht tauschen mag. Er berichtet von protzig vulgären Neureichen, Kannibalen, vom Einfluss der Beat Generation und der Underground-Gruppe Skupina 42.

Twilight Zone

Für mich gleicht Osteuropa immer noch einem Kontinent von Ruinen, Relikten eines zerfallenen Imperiums. Spannung liegt in der Luft. An der Peripherie ragen halbzerfallene Fabriken empor, die Zufahrtwege wurden längst vom Regen weggespült, am Straßenrand tauchen seltsame Objekte auf wie in Tarkowskijs »Stalker«, querfeldein führen überbewachsene Pfade ins Nirgendwo, an jeder Ecke Denkmäler für Tote, die schon so lange tot sind, dass man sie längst nicht mehr liebt oder hasst.
Die janusköpfigen Realität, die hier herrscht, macht mich immer noch verrückt - die abscheuliche, brutale Wirklichkeit, die sich verabschieden musste, und die erträumte, reiche und freie Wirklichkeit, die kommen sollte und nicht gekommen ist.
Manchmal wird mir ganz schlecht von soviel Vulgarität: Die protzigen Häuser und Autos der Neureichen in Dörfern, die noch wie in den fünfziger  Jahren aussehen, die Werbeplakate an den Bäumen am Straßenrand, der Puff im ehemaligen Schulgebäude oder im Wohnwagen. Das alles gehört zu meinem Territorium. Ich möchte mit niemandem tauschen.
Die Frage, ob ich ein osteuropäischer oder westeuropäischer Schriftsteller bin, stellt sich nur dann, wenn ich Prag verlasse.
In Böhmen fragt keiner danach. In Böhmen käme keiner auf die Idee, Osteuropäer zu sein. Denn die Osteuropäer sucht man immer ein Stück weiter östlich: für die Tschechen sind es die Slowaken, für die Slowaken die Polen, für die Polen die Ukrainer ... Die Suche nach dem echten Osteuropäer erinnert mich an jene Expeditionen, die in den Urwäldern des Amazonas nach Kannibalen suchten. Denn die Kannibalen waren immer der Stamm, der ein Stück weiter flussaufwärts siedelte, wir sind es auf keinen Fall ... bis zu dem Moment, wo wir euch gefressen haben, hahaha!
Ob einer aus Frankreich oder aus Ungarn stammt, ist keinesfalls uninteressant, wir in Prag spüren instinktiv, aus welchem Teil Europas der andere kommt, aber jemanden als Osteuropäer anzusprechen: Hallo, du Osteuropäer!, das würde komisch klingen. Oder sehr, sehr überheblich.
Bis heute amüsiert mich die Undeutlichkeit dieses Begriffs, ich finde es lustig, dass ich dadurch selbst eine Art Bastard bin, der selber nicht genau weiß, zu welchem Teil der Welt er gehört.
In Ulan Bator oder Kiew werde ich als westeuropäischer Schriftsteller angekündigt, trete ich in Paris oder München auf, sieht man mich immer noch als echten Osteuropäer. Einen Osteuropäer, dessen Zähne oder Schuhe mittlerweile besser sind als vor zehn, fünfzehn Jahren, der aber immer noch etwas ungehobelt daher kommt. Ein »osteuropäischer Schriftsteller« zu sein mutet immer noch schräg an.
Dabei stand meine Jugend ganz im Zeichen von  »Mitteleuropa«, jenem Mythos,  den bedeutende Autoren wie Hrabal, Havel, Milosz, Konrad, Kundera und andere »Väter« von mir geprägt haben. Es war ihr Versuch, sich aus dem sowjetischen Imperium freizukämpfen. Selbstverständlich habe ich damals die Russen angebetet, Bunin, Tschechow, Bulgakow, Babel usw., deren Einfluss später von der Beat Generation unterlaufen wurde.
Dabei spielte das Leben im Underground sicher eine größere Rolle als die literarische Kühnheit und Experimentierfreude eines Kerouac oder Ginsberg.
Die wichtigsten Vertreter des Undergrounds waren für mich die Autoren von Skupina 42 - der Gruppe 42 (die Zahl bezieht sich auf das Gründungsjahr). Die bildenden Künstler, Fotografen und Schriftsteller der Skupina 42 waren die am stärksten mitteleuropäisch geprägten Künstler überhaupt. Fest in der demokratischen Tschechoslowakei der Vorkriegszeit verwurzelt, gehörten sie während des Protektorats zum künstlerischen Underground, wofür manche auch mit dem Leben bezahlen. Veröffentlichen durften sie auch später,  unter den Kommunisten, nicht; da landeten sie eher entweder im Gefängnis oder wurden zur Emigration gezwungen.
Zu den Schriftstellern der Skupina 42 gehörten neben Bohumil Hrabal andere wichtige Autoren wie Jirí Kolár, Jan Hanc oder Ivan Blatný - alles Namen, die außerhalb meines Landes kaum bekannt sind, für mich aber bis zum heutigen Tag die Quelle meiner Inspiration bedeuten, meine geistigen Wurzeln.
Der von ihnen geprägte Begriff »Mitteleuropa« oder »mitteleuropäischer Schriftsteller« hat allerdings keine Wurzeln geschlagen, sie haben es nicht geschafft, ihn durchzusetzen, die sowjetische Besatzung hat alle in einen einzigen riesigen Trog gespült.
Wie war noch mal die Frage? Ein mitteleuropäischer oder ein osteuropäischer Schriftsteller? In meinen Augen spielt das keine Rolle.
Sollte ich einen für mich wichtigen zeitgenössischen Autor nennen, der im Westen für einen Osteuropäer gehalten wird, so ist es Andrzej Stasiuk, dessen gesteigertes Interesse an Trümmern und Ruinen ich teile. Auch nach zwanzig Jahren Postkommunismus sind sie in Osteuropa immer noch besser zu sehen als im aufgeräumten Westeuropa.
Der Osten ist einfach ärmer und kaputter, die Greuel der Geschichte haben hier tiefere Wunden hinterlassen.
Dieses Secondhand-Europa ist mein Zuhause, mein Territorium. Ich mag es gerne. Es lebt sich nicht ganz einfach darin, aber darüber schreiben lässt sich umso besser. 

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová

Werke von Jáchym Topol

Ein empfindsamer Mensch

25,00 €

Die Teufelswerkstatt

24,80 €

Zirkuszone

24,80 €

Nachtarbeit

22,90 €
25,00 €
24,80 €
24,80 €
22,90 €

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Jáchym Topol, 1962 in Prag geboren und Sohn des Dramatikers Josef Topol, war nicht nur der Star des literarischen und musikalischen Underground vor 1989 sondern ist auch heute noch der bekannteste tschechische Autor seiner Generation. Als Sechzehnjähriger unterzeichnete er die Charta 77, 1985 begründete er das Underground-Magazin Revolver Revue, seine Zeit als Wehrpflichtiger verbrachte er mit anderen Intellektuellen in der Irrenanstalt, er arbeitete als Heizer und Lagerarbeiter. In den 90er Jahren studierte er Ethnologie und bereiste zwischen 1989 und 1991 als Journalist für die Wochenzeitung Respekt und Drehbuchautor Osteuropa. 1988 erschien in Samizdat sein erster Gedichtband Ich liebe Dich bis zum Irrsinn, 1992/93 folgten Am Dienstag gibt es Krieg und...

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