Menschenproduktion
Menschen, die zu ihrer Existenzsicherung keinen Nachwuchs benötigen, können kinderlos bleiben, wenn ihnen Verfahren zu seiner Vermeidung zugänglich sind. Die Geheimgeschichte der neuzeitlichen Ökonomien – Merkantilismus, Kapitalismus und »real existierender Sozialismus« – verbirgt sich gerade in der Fähigkeit, für eine nicht mehr familienwirtschaftlich organisierte Ökonomie dennoch Menschen durch Fortpflanzung in der Familie als Arbeitskräfte bereitzustellen. Diese Fähigkeit erweist sich als...
Menschen, die zu ihrer Existenzsicherung keinen Nachwuchs benötigen, können kinderlos bleiben, wenn ihnen Verfahren zu seiner Vermeidung zugänglich sind. Die Geheimgeschichte der neuzeitlichen Ökonomien – Merkantilismus, Kapitalismus und »real existierender Sozialismus« – verbirgt sich gerade in der Fähigkeit, für eine nicht mehr familienwirtschaftlich organisierte Ökonomie dennoch Menschen durch Fortpflanzung in der Familie als Arbeitskräfte bereitzustellen. Diese Fähigkeit erweist sich als die gewaltsame, ›polizey‹-staatliche »Menschenproduktion«. Ihr Erfolg beruht auf der Auslöschung des Nachwuchsverhütungswissens durch millionenfache Tötung seiner Trägerinnen, die als »Hebammen-Hexen« zwischen dem 15. und dem Ende des 17. Jahrhunderts vernichtet wurden. Nach Abschluß dieser Massaker wurde der Glaube an einen »natürlichen Kindeswunsch« allgemein. Er beherrscht seitdem die wissenschaftliche Analyse ungleich stärker als die einzelnen Frauen und Männer. Von nun an konnte eine hinreichende Erklärung für die Gattungsreproduktion und damit die gesellschaftliche Reproduktion insgesamt nicht mehr gegeben werden. Das vorliegende Buch schreibt deshalb die Geschichte der Moderne insofern neu und unterzieht die hierbei bedeutsamen Gesellschaftstheorien – merkantilistische und klassische Nationalökonomie, Marxismus sowie die verschiedenen Konzepte der modernen Bevölkerungswissenschaft – der Kritik.
A. Vorrede
B. Wie die römische Sklavenwirtschaft durch Zerstörung der Familienwirtschaft groß wird und an der dadurch versiegenden Menschenproduktion zerbricht
1. Warum die patriarchalische Familie eine territoriale Expansionsdynamik entwickelt
2. Warum die Bevölkerungspolitik der römischen Kaiser scheitert
3. Warum neben der staatlichen Politik auch religiöse Bewegungen gegen den Familienverfall auftreten
4. Wie die christliche Moral staatliches Familiengesetz wird
C. Wie der Feudalismus durch Wiederherstellung der Familienwirtschaft problemlos Menschen produziert, in seiner Krise jedoch wieder Menschenmangel entsteht
D. Wie die Krise des Feudalismus zur staatlichen Menschenproduktion führt
Wie durch „Hebammen-Hexen“-Verfolgung die Menschenproduktion der Neuzeit beginnt
Wie die Menschenproduktion zur ersten Aufgabe des „Polizey“-Wesens wird und den modernen Staat mitkonstituiert
Wie das Christentum Kinderreichtum als Verantwortung vor Gott predigt, um das traditionelle elterliche Verantwortungsgefühl auszuschalten
Warum die Bevölkerungspolitik widersprüchlich verläuft oder: Die Unfähigkeit zur Feinsteuerung in der Menschenproduktion
5. Wie die Bevölkerungsentwicklung der Neuzeit im Populationismus der späteren merkantilistischen Theorie reflektiert wird
6. Warum in der industriellen Revolution die „Polizey“-staatliche Menschenproduktion ihren Höhepunkt, nicht jedoch ihren Ausgangspunkt hat
a) Wie es zur BevölkerungsExplosion kommt
i) Warum den historischen Demographen die Erklärung der „Bevölkerungsexplosion“ misslingt
ii) Warum die neuzeitliche Menschenproduktion in die „Bevölkerungsexplosion“ übergeht
Wie die „Bevölkerungsexplosion“ in der Analyse der ökonomischen Klassiker erschein
a) Wie Adam Smith (1723-1790) das zerstrerische Resultat der staatlichen Menschenproduktion bereits erfasst, ohne sie jedoch selbst zu problematisieren
b) Warum Thomas Robert Malthus (1766-1834) zur Bekämpfung der „Bevölkerungsexplosion“ sexuelle Enthaltsamkeit und nicht Verhütungsmittel fordert
c) Wie David Ricardo (1772-1823) den Erfolg der „Polizey“-staatlichen Menschenproduktion als eine Gefährdung der kapitalistischen Warenproduktion darstellt
d) Warum Friedrich Engels (1820-1895) und Karl Marx (1818-1883) die Produktion von Arbeitslosen ergreifen, aber diejenige von Kindern mystifizieren
Wie es zum neuerlichen Durchbruch ökonomischer Rationalität im Fortpflanzungsverhalten der Europäer kommt oder: Warum die Geburtenraten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu sinken beginnen
7. Wie die „Bevölkerungsexplosion“ zu Qualitätproblemen in der Menschenproduktion führt und der Staat zum Erzieher wird
8. Warum in Frankreich früher als im übrigen Europa die Geburtenraten zurückgehen
9. Wie die historischen Demographen den Geburtenrückgang erklären
10. Wie sich der „natürliche Kindswunsch“ zu verflüchtigen beginnt
11. Wie durch vielfältige Bevölkerungspolitiken die Menschenproduktion in Gang gehalten werden soll
a) Warum Marxisten mit Christen und Staat eine „unheilige Allianz“ eingehen
b) Warum die staatliche Abtreibungsbestrafung nur zögernd liberalisiert wird
c) Wie der Staat über finanzielle Anreize die Menschenproduktion auch jenseits der Familie in Gang zu halten versucht
G. Wie der Glaube an den „natürlichen Heirats- und Fortpflanzungswunsch“ zur Fallgrube der Analysen wird oder: Das familistische Scheitern der Wissenschaft vom Geburtenrückgang
Wie erste Zweifel an einem Fortpflanzungstrieb des Menschen in die ökonomische Analyse eingehen (Karl Kautsky, 1880, 1910, sowie Paul Mombert, 1907, und Lujo Brentano, 1909)
Wie durch die Unterscheidung zwischen Einkommenquelle und Einkommenshöhe als Faktoren der Fortpflanzung neue Einsichten gewonnen werden (Rudolf Goldscheid, 1911; Johannes Müller, 1924 und Rudolf Heberle, 1936, sowie Alva und Gunnar Myrdal, 1934)
Wie der „natürliche Fortpflanzungstrieb“ im Faschismus entmystifiziert und in der neueren Bevölkerungs-theorie wieder tabuisiert wird
a) Warum der sog. Babyboom kein Aufbäumen der Natur gewesen ist
b) Warum die NS-Bevölkerungstheoretiker die humanistische Maske der „Polizey“-staatlichen Menschenproduktion fallenlassen
c) Wie die bevölkerungs-theoretische Debatte in der Bundesrepublik Deutschland eine ökonomische Erklärung zu vermeiden sucht
d) Wie in den USA die Nationalökonomie erstmals seit der Klassik wieder zu einer Bevölkerungs-theorie findet (Chicago-Schule, Harvey Leibenstein und Richard A. Easterlin)
12. Wie die alternative ökonomische Erklärung des Geburtenrückgangs darzustellen ist
Bibliographie
Verzeichnis der Graphiken
Verzeichnis der Tabellen
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10119 Berlin
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