Brüder und Schwestern!
Ich erlaube mir diese Anrede, weil ich sie grundsätzlich schön und just an diesem Ort besonders sinnig finde, nämlich in einer Kirche, wo ja seit jeher der Anspruch gelebt wird, dass die Menschen einander Brüder und Schwestern sein mögen. Aber wenn ich »an diesem Ort« sage, meine ich nicht nur den Aachener Dom, ich meine Aachen, die Europa-Stadt, mit ihrer kräftigen Herzwurzel in der europäischen Geschichte und ihren neugierigen Fühlern in die europäische Zukunft. Und wird nicht in der Europahymne, der Ode an die Freude, versprochen, dass alle Menschen Brüder werden? Frauen als Schwestern zweifellos mitgemeint.
Als ich eingeladen wurde, im Aachener Dom zu sprechen, war mein erster Gedanke: Oh mein Gott! Ich soll eine Predigt halten! Will ich das? Kann ich das?
Und dann fiel mir eben ein (und ich fand googelnd dafür einige Beispiele), dass Prediger die Gläubigen mit »Brüder und Schwestern« ansprechen, und das gefällt mir, da will ich mich einreihen, so können wir uns verständigen, jedenfalls will ich nicht ein Redner sein, der die Gläubigen »Schäfchen« nennt.
Brüder und Schwestern! Jetzt habe ich euch auch als Gläubige apostrophiert, und das war vielleicht unangemessen, zumindest voreilig, denn ich werde hier Wahrheiten predigen, denen gegenüber ihr zunächst vielleicht skeptisch eingestellt seid, und ich will ja erst bewirken, dass ihr glaubt. Ich will über Europa reden, just hier, in der Europa-Stadt Aachen, euch abbringen von Irrwegen, zur Umkehr aufrufen, den rechten Weg vorschlagen, euch zum Glauben an unser Europa verführen, auch und erst recht wenn dies zunächst dem zu widersprechen scheint, was ihr glaubt.
Brüder und Schwestern, ich nehme an, dass ihr euch durchaus als »proeuropäisch« bezeichnet, aber ich sage euch, dass das eine Phrase ist, und das Erste, was wir überwinden müssen, um wahrhaftig und konstruktiv über Europa reden zu können, ist diese phrasenhafte Sprache, zu der man schnell nicken kann, statt Nein zu sagen zu der Praxis, die sich dahinter versteckt.
Denn was bedeutet »proeuropäisch« oder, schlimmer noch, »glühender Europäer«, liebe Brüder und Schwestern? Würde ich jetzt zwölf von euch herausbitten, um es zu erklären, wir bekämen ziemlich sicher lauter verschiedene Meinungen. Ich werde euch sagen, was »proeuropäisch« bedeutet! Es bedeutet in Hinblick auf die europäische Idee, auf das europäische Einigungsprojekt, zunächst so gut wie nichts! Im besten Fall ist es ein Lippenbekenntnis, mit dem man – immerhin, aber nicht viel mehr – ausdrückt, nicht zu den nationalistischen Dumpfbacken zu gehören, die die Europäische Union ganz und gar ablehnen, für die »Brüssel« die Chiffre für – ich formuliere es an diesem Ort bewusst so: –, für das Teuflische ist, das das Heilige, nämlich die nationale Souveränität, untergräbt. »Proeuropäisch« bedeutet ein Ja, mit dem man sich zur Europäischen Union bekennt, aber sie deswegen nicht erkennt. Denn ich sage euch: Wer der europäischen Idee wahrhaft zustimmt, muss die Idee kennen, und wer zur heutigen Union Ja sagt, darf in Hinblick auf den Zustand der Union auf keinen Fall ein Ja-Sager sein. Denn zu viel liegt heute in Europa im Argen, ist blockiert durch unproduktive Widersprüche, ist bedroht durch das Unverständnis und die Uneinsichtigkeit vieler unserer politischen Repräsentanten, die, gefesselt von nationalen Sachzwängen, statt entfesselt von der befreienden europäischen Idee, ihre Ämter anstatt die Idee zu retten versuchen. Sie nennen ihr Handeln pragmatisch, sie nennen es Realpolitik, und ja, es ist Realpolitik, aber nur insofern, als diese Politik die Realität beschädigt und die Bedingungen eines realen Zusammenwachsens Europas immer mehr zunichtemacht.
Die vollständige Predigt von Robert Menasse können Sie
hier als PDF herunterladen.