5 Fragen an András Visky zu Die Aussiedlung

Beitrag zu 5 Fragen an András Visky zu <em>Die Aussiedlung</em>

»Ein Buch, wie es kaum jemals in einem Jahrhundert geschrieben wird.«

Péter Nádas

Wie erinnert man sich an das Unfassbare, ohne daran zu zerbrechen? In Die Aussiedlung erzählt András Visky von einer Kindheit in der Verbannung – und der unerschütterlichen Liebe einer Mutter. Basierend auf seiner eigenen Familiengeschichte, entwirft der ungarische Dramatiker und Regisseur ein literarisches Erinnerungswerk, das von Würde, Widerstandskraft und Glauben erzählt. In 822 eindringlichen Minikapiteln hält er fest, was nicht vergessen werden darf. Hier beantwortet der Autor fünf Fragen zu den Hintergründen seines bewegenden Romandebüts.

Die Aussiedlung ist Ihr erster Roman – ein spätes Debüt von staunenswerter Reife und Originalität. Als hätten Sie sich ein ganzes Leben lang auf das Schreiben dieses Buches vorbereitet. Ist der Eindruck richtig?
Vor fast zwanzig Jahren habe ich einen ersten Anlauf genommen und ein Stück aus dem entstehenden Roman in einer Zeitschrift veröffentlicht. Ich wusste schon damals, dass alles, was ich schreibe – Lyrik, Essays, Theaterstücke –, eines Tages in diesen Roman münden würde. Die vielen Dinge, die ich ausprobiert und wieder verworfen habe, um eine Struktur zu finden, haben mir letztlich geholfen. Ohne die gescheiterten Ansätze hätte ich nie den schmalen Pfad entdeckt, der auf mich wartete und den ich einschlagen musste, um stilistisch, formal und erzähltechnisch voranzukommen. Becketts Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better ist eine lustige Geistesübung für mich geworden.

Was war der Anstoß, dieses Buch zu schreiben? Gab es einen äußeren Anlass?
Wir haben fast fünf Jahre in einem kommunistischen Zwangsarbeitslager verbracht, während mein Vater als Dissident zu 22 Jahren Haft verurteilt war. Die Behörden hatten alles konfisziert; von unserem Vater keine Spur. Meine Mutter kämpfte darum, ihre sieben Kinder am Leben zu erhalten. Ich war der Jüngste, der am stärksten Beschützte. Einmal habe ich sie beim Weinen ertappt. Ich erinnere mich, wie ich ihr feierlich versprach, über alles zu schreiben, was wir durchmachten. Auch an ihr strahlendes, trauriges Lächeln erinnere ich mich. Ich wollte nie Bücher schreiben – nur dieses eine. Alle meine Stücke und Texte dienten als Sprungbrett für Die Aussiedlung.

Was hat Sie auf die Idee gebracht, die Form der nummerierten Sequenzen zu wählen? Wie stark hat die Lektüre der Bibel den Ton Ihres Textes inspiriert?
Der Zufall wollte es, dass uns als einziges Buch die Bibel ins Lager folgte. Meine Mutter las uns im trüben Licht der Baracke jeden Tag vor, und ich hatte das Gefühl, das Buch erzählt unsere Geschichte: Wir sind in der Wüste ausgesetzt und jemand, Moses oder der Erlöser, wird uns retten. Wir werden das Rote Meer – stellvertretend: die Donau – durchschreiten und ins Land der Freiheit zu gelangen. Als Erlöser, stellte ich mir vor, wird unser Vater kommen und unser Leben wieder heilmachen. Mutter hat nie die Hoffnung verloren, dass sie ihn eines Tages wiedersehen würde. Sie liebten sich leidenschaftlich bin ans Lebensende.
Mich hat die Struktur des Bibeltextes inspiriert: das Lineare und das Fragmentarische. Mein Roman lädt dazu ein, kurze Stücke zu lesen – genug, um mit sich selbst in Zwiesprache zu treten. Ich wollte den Lesern die Freiheit geben, das Ganze nicht von vorn bis hinten durchlesen zu müssen. Jeder kann sich sein eigenes Buch erschaffen. Ohne die aktive Teilnahme der Leser ist das Buch nicht lebendig.

Sie erzählen von einer Kindheit im Lager. Doch statt niedergeschmettert zu sein, staunt man beim Lesen über die Liebe, das Glück, die Momente des Wunderbaren. Wie haben Sie das geschafft?
Es gibt eine Quelle, aus der die Menschen ihren Widerstand schöpfen, nicht nur in finsteren Zeiten: die innere Freiheit. Sie kann ihnen nicht genommen werden. Wir litten unter unserer Gefangenschaft. Doch meine Mutter flößte uns den Glauben ein, dass wir, wenn wir unsere Freiheit bewahren, für die Freiheit schlechthin kämpfen. Hasse nicht die, die dich hassen, lautete unser oberstes Gebot. Und ein anderes: Begehe niemals Verrat an dir selbst. Ein Kind kann unter unvorstellbaren Verhältnissen glücklich sein. Sein Lebensvertrauen ist fast unerträglich. Erst viel später verstand ich, dass uns die Kinder am Leben halten, nicht umgekehrt. Die Geschichte der Menschen ist absurd, für die Erwachsenen so unverständlich wie für die Kinder. Gespiegelt in der kindlichen Unschuld, ist sie aber nicht nur tragisch. Sie kann auch eine Katharsis bewirken. Vorausgesetzt, die Geschichte wird möglichst genau erzählt. Lieber scheitern als lügen.

Sie legen Wert darauf, als transsilvanischer Schriftsteller bezeichnet zu werden. Warum?
Transsilvanien (zu Deutsch: Siebenbürgen) ist ein wunderbarer vielsprachiger Kulturraum. Ich bin hier zu Hause. Rumänisch habe ich im Lager gelernt, gleichzeitig mit meiner Muttersprache. Als Angehöriger einer Minderheit lernt man früh, dass sich hinter der nächsten Tür eine andere Wahrheit, eine andere Vorstellung vom Leben, eine andere Lokalgeschichte verbirgt. Die Erfahrung, zu einer Minderheit zu gehören, macht uns menschlich. Im Lager waren wir die einzigen ethnischen Ungarn, aber die meisten Mitgefangenen waren solidarisch mit uns. Ich bin mit Rumänen, Sachsen, Juden, Roma großgeworden; die Sachsen sind während der Ceauşecu-Diktatur nach Deutschland emigriert. Die ungarische Kultur ist in Siebenbürgen tief verwurzelt, mehr als eine Million Menschen hier sprechen Ungarisch. Ich lehre an der größten Universität des Landes; die offiziellen Sprachen sind Rumänisch, Deutsch und Ungarisch.

Eine Lektüre, die an die Würde des Menschseins erinnert

Die Aussiedlung
eBook 25,99 €

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András, der Erzähler, jüngstes von sieben Kindern, liebt seine tapfere Mutter Júlia über alles – wo sie ist, lauert das Glück, egal, was geschieht. Vier Jahre lang zieht sie mit ihren Kindern in der ostrumänischen Steppe umher – sie wurden »ausgesiedelt«, nachdem der Vater, ein Pastor, zu 22 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Sie richten sich in Erdhöhlen ein und in verlassenen Dörfern, beaufsichtigt von den Behörden. Sippenhaft. Jahrzehnte später findet Visky den gleichmütigen, zuweilen heiteren Ton, die leuchtenden Bilder und die Form: 822 durchnummerierte Minikapitel, die Atemzügen gleichen.

Der Entschluss, umeinander zu kämpfen, »solange die Seele mich trägt«, verbindet die Eltern, tiefgläubige, einander leidenschaftlich liebende Menschen, deren Haltung sich ihren Kindern unauslöschlich einprägt. Wie sich die Phantasie mit der Liebe verbündet: gegen die Wirklichkeit und gegen die Versuchung, böse zu werden – das ist so noch nie erzählt worden.

 

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András Visky, Jahrgang 1957, ist ein namhafter ungarischer Dramatiker und Regisseur, der in Cluj-Napoca lebt und arbeitet. Nach Jahrzehnten, in denen er Theaterstücke, Gedichte und Essays schrieb, veröffentlichte er 2022 seinen ersten und einzigen Roman Die Aussiedlung. Dieses Buch erregte allergrößtes Aufsehen in Ungarn und liegt dort mittlerweile in der fünften Auflage vor.
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