»Das umgekehrte Erhabene« – so definiert Jean Paul, einer von Mayröckers langjährigen geistigen Begleitern, in seiner Vorschule der Ästhetik den Humor. Beim Gefühl des Erhabenen trifft das endliche Vermögen des Subjekts auf das Unendliche, und das Subjekt kann ideell über sich hinauswachsen. Das Komische entsteht aus der entgegengesetzten Bewegung: Das Unendliche in Form einer Idee, eines Anspruchs, einer Pathosformel scheitert an der Enge der Verhältnisse, an den irdischen Realitäten, an der Begrenztheit eines Einzelnen. Das umgekehrte Erhabene ist eine Empfindung von Disparatheit, ein gemischtes Gefühl aus Überlegenheit und Unterlegenheit, aus Schwung und Scham, »so daß also«, folgert Jean Paul, »das Komische, wie das Erhabene, nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte.«
Friederike Mayröcker sah ich zum ersten Mal in Basel auf einem feministischen Symposion. Ich war mit meiner Philosophinnengruppe dorthin gefahren, wir checkten in der Jugendherberge ein, kauften auf dem Weihnachtsmarkt ausgefallene Gewürze, hörten Klanginstallationen und sahen autoreferentielle Performances. Dann ging ich zu Mayröckers Lesung, eher zufällig, weil ich mich für Literatur zuständiger fühlte als für Musik.
Eine ältere Dame las mit monotoner Stimme Gedichte, langsam und deutlich. Ich verstand kein Wort. Es musste sich um etwas Postmodernes, Avantgardistisches handeln. Ich ging zum Büchertisch und kaufte das Buch.
Dieses Buch lag mehrere Jahre unangetastet in meinem Regal. Mich irritierte, dass es ein Blumenfoto im Stil eines Kalenderblattes auf dem Cover trug. Mir schien, dass dieses Foto den Inhalt verharmloste, dass es die Käuferin in Sicherheit wiegen sollte.
Später schrieb ich eine Magisterarbeit über Friederike Mayröcker. Es gab noch nicht viel Sekundärliteratur. Weil ich das Bedürfnis hatte, mich auf etwas zu stützen, oder wenigstens gründlich zu sein, fuhr ich nach Wien, um im Mayröcker-Archiv zu recherchieren und die Autorin persönlich zu befragen. Das alles wäre für meine Arbeit nicht nötig gewesen. Es war ein Vorwand für den Wunsch, Verbindung aufzunehmen, mit einem Werk und einer Person auf andere Weise als auf wissenschaftliche in Kontakt zu kommen.
Das Mayröcker-Archiv befand sich damals im Wiener Rathaus und bestand aus Pappkartons, die Manuskripte, Notizen, Vorarbeiten enthielten. Eine seltsame Höflichkeit umgab dieses Archiv. Zum einen die prunkende Architektur, eine würdevoll-abweisende Fassade. Zum anderen wachte ein Pförtner, an dem jeder vorbeimusste, bei dem man sich anmeldete, dem ich eine Mayröckersche Einladung vorwies. Der Pförtner studierte die Einladung gründlich. Er war überaus zuvorkommend, er sprach in gezierten Sätzen auf mich ein, welche Freude für das Archiv, ein Gast aus dem Ausland, etc. Er versuchte, wie man das in Wien macht, mich mit einem Titel anzusprechen, den ich nicht trug. Es fiel mir schwer, auf diesen Ton angemessen zu reagieren, denn der Pförtner musterte mich mit auffällig-unauffälliger Skepsis. Eine schlechtgekleidete Studentin, zudem aus dem Ausland. Hätte er zu entscheiden, keinesfalls würde man sie einlassen. Leider gab es diese Einladung, und es war wie auf der russischen Botschaft: lag eine ordentliche Einladung vor, konnte man nichts machen. Er öffnete mir ausgesucht höflich die Tür zu den Pappkartons.
Ich schrieb über Die Abschiede und sichtete die verschiedenen Fassungen, die verworfenen Passagen, die Materialien, die offenbar Keimzellen gewesen waren: Postkarten, auf denen die Autorin Sätze unterstrichen hatte, Flugblätter, Programmhefte, an ausgewählten Stellen markierter Papierkram, und vor allem winzige Schnipsel, auf denen ein paar flüchtig hingeworfene Worte standen, Verbaleinfälle, Traumnotizen, Einzelworte, die man im fertigen Buch als Leitmotive wiederfinden konnte.
Die Privatheit all dieser Zettel frappierte mich. Noch erstaunlicher aber war, dass man ihnen eine solche Wichtigkeit beigemessen hatte. Eine weiße Serviette mit einem hingekritzelten Stenogramm, eine Briefmarke mit einem Ausrufezeichen auf der Rückseite, ein mehrfach beschriebener Umschlag: all das war ganz offensichtlich schon Kunst. Die Kunst kam nicht erst später hinzu, mit dem Druck des Buches, die Kunst war eine Lebensweise. Es kam nicht darauf an, hier Arbeitsschritte zu entschlüsseln oder flüchtig aufgemalte Worte in einem Textzusammenhang mit Akribie wiederzufinden. Diese sorgsam gehorteten Zettel, Schnipsel, Heiligenbildchen, die hier zu musealen Ehren kamen, waren etwas wie Duchamps Pissoir, ein Witz, wie er surrealer nicht sein konnte.
Zu meinem Termin in der Zentagasse ging ich mit dem unguten Gefühl, eigentlich keine Fragen zu haben außer solchen, die mich selbst betrafen, und einer freundlichen, vielbeschäftigten Frau die Zeit zu stehlen.
Mich wunderte, dass die Schriftstellerin in einer gewöhnlichen Straße wohnte. Einer Straße, die betont unspezifisch wirkte, während ich wohl davon ausgegangen war, man müsse in diesen Häuserzeilen den Flügelschlag des Pegasus deutlicher vernehmen als anderswo, und das müsse sich, selbstverständlich, auch in etwas Sichtbarem, Spürbarem, etwas Unkonventionellem niederschlagen. Aber man konnte das Dichterinnenhaus von außen nicht erkennen.
Friederike Mayröcker empfing mich großmütterlich. Ich hatte ihr Blumen gekauft, sie mir Petits Fours. Sie räumte zwei Stühle von Papierstapeln frei, sie stellte mir eine Kaffeetasse auf, sie beantwortete meine Fragen mit Engelsgeduld. Die legendäre, völlig mit Papieren verschüttete Wohnung. Die schwarz gekleidete, ernste, vergeistigte Schriftstellerin. Ich stellte maximal sachliche Fragen und schrieb die Antworten mit. Ich begann mich etwas zu entspannen. Plötzlich klingelte es. Laut. Schrill. Ein enormer mechanischer Wecker. »Ihre Zeit ist um«, sagt Mayröcker zu mir.
Hätte Jean Paul gelacht? Hätte Duchamp gelacht? Hätte ich lachen sollen? Ich verließ fluchtartig das Haus. Draußen eine Straßenbahn, ein Supermarkt, alles normal. Im Nachhinein lache ich.